[Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft, Bd. 6], trafo verlag 1999, 232 S., ISBN 3-89626-134-7, EUR 16,80
Rezension von Erich Fromm in:
Berliner Lesezeichen, Nr. 12/2000, S. 108f.:
Es gibt Autoren, die
gewinnen durch Einführungen, Interpretationen und Ausdeutungen. So bin ich
mir ziemlich sicher, daß viele Leser keinen Zugang zu Martin Heidegger
gefunden hätten, gäbe es nicht erläuternde Einführungen in sein Werk,
erklärende Sekundärliteratur, die man als Einstieg benutzen kann.
Dann gibt es aber auch Theoretiker, die verlieren durch solche
Interpretationen aus zweiter Hand; sie verlieren ihre Eigenart, ihre
Frische, ihre Originalität. Dazu gehört ganz sicher Hannah Arendt
(1906-1975). Diese Autorin, Zeitgenossin und scharfsinnige Kritikerin
unseres Jahrhunderts muß man zuerst und vor allem ungefiltert durch die
Sichten anderer lesen. Die Vielschichtigkeit ihrer Probleme, die
unterschiedlichen Sichtweisen, die Eigenart ihrer Fragestellungen und ihrer
Suche nach Antworten - all das öffnet sich einem nur, wenn man sich die
Mühe macht, wenigstens einige ihrer großen und kleinen Werke - und einige
ihrer Briefwechsel, natürlich vor allem den mit Karl Jaspers - zu lesen,
ohne sich von anderen an die Hand nehmen zu lassen.
Erst danach sollte man entscheiden, ob man die Meinungen anderer über
Hannah Arendt benötigt, ob man sich mit anderen um ihre Positionen streiten
möchte, ob man sich also von einer ganz individuellen Rezeption in das
weite Gebiet der wissenschaftlichen Interpretation begeben will. Wenn man
das vorhat, stehen einem heute bereits erstaunlich viele Titel zur
Verfügung, die das Leben und das Werk von Hannah Arendt zum Gegenstand
haben. Einer davon ist Schindlers Untersuchung zum Gesamtwerk der deutschen
Jüdin, die nach ihrer Emigration in den USA eine neue Heimat fand und mit
ihren philosophischen und politologischen Arbeiten immer wieder für
Aufsehen sorgte. Das Buch ist als Band 6 in der Schriftenreihe „Auf der
Suche nach der verlorenen Zukunft" erschienen, die von Hanna Behrend im
trafo verlag herausgegeben wird.
Roland W. Schindler (Jg. 1963) von der Bremer Universität will sein Buch
als Einführung in das komplexe und für ihn kohärente Gedankengebäude der
Hannah Arendt verstanden wissen. Ihre politische Theorie benenne präzise
das Scheitern der humanistischen Rationalität, ohne daß es jedoch zur
Resignation oder zur Flucht in den Pessimismus komme: „Statt dessen
begreift sie die Stunde Null der Rationalität als die Chance zu einem
Neuanfang. Für sie gilt es, neue Antworten auf die Fragen zu suchen, die an
die in Auschwitz zerbrochene Tradition nicht mehr gerichtet werden
können."
Dieser Suche soll sich die vorliegende Studie widmen. Begonnen wird mit
einer Übersicht über das methodische Repertoire bei Hannah Arendt. Es
folgen dann Abschnitte, die sich mit dem Problem der jüdischen Identität
und der Krise des Humanismus befassen. Weiter werden die Ansichten Arendts
zur Moderne und zur Revolution analysiert, und es wird ihre Handlungstheorie
vorgestellt. Intensiv befaßt sich Schindler mit der Diskussion um die
Schrift Eichmann in Jerusalem und die damit verbundene
Auseinandersetzung um die „Banalität des Bösen".
Der Autor nutzt die ganze Vielfalt der Arendtschen Arbeiten: die großen
Bücher Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft, Vita activa,
Über die Revolution und das Spätwerk Vom Leben des Geistes; die
frühen Artikel, Essays und die Lebensgeschichte der Rahel Varnhagen; und
natürlich ihre reichhaltigen Briefsammlungen. Man wünschte sich an vielen
Stellen, daß der Autor statt einer manchmal umständlichen eigenen
Erklärung und Positionsbeschreibung mehr Hannah Arendt selbst zitiert
hätte. Wer sich den
mühevollen Gang durch die Argumentation und Beweisführung des Autors
ersparen, seine Ansicht zu Hannah Arendt aber trotzdem kennenlernen möchte,
dem sei das Nachwort empfohlen. Hier wird auf zwei Seiten knapp und
verständlich das Ergebnis des Buches resümiert.