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Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Band 117 (2013)

 

Jean-Jacques Rousseau zwischen Aufklärung und Moderne. Akten der Rousseau-Konferenz der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin am 13. Dezember 2012 anläßlich seines 300. Geburtstages am 28. Juni 2012 im Rathaus Berlin-Mitte.

Herausgegeben von Prof. Dr. Hans-Otto Dill

 

 

 

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[= Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 117], 2013, 217 S., ISBN 978-3-89626-987-4, 19,80 EUR

 

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Hans-Otto Dill (Berlin, MLS)

 

Einführung: Die Berliner Rousseau-Konferenz 2012

 

„Jean-Jacques Rousseau zwischen Aufklärung und Moderne" war das Thema einer Konferenz Berliner und Potsdamer Wissenschaftler, die die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin anlässlich des 300. Geburtstages des Gen­fer Philosophen am 13. Dezember 2012 im Rathaus Berlin-Mitte veranstaltete. Das Motto verweist auf das Eingebettetsein Rousseaus in jene europäische, in Frankreich Siede des Lumieres, in Deutschland „Aufklärung" genannte geistige Bewegung, die im Schöße und in Gegenposition zur traditionalen Feudalgesellschaft bzw. zum Absolutismus die moderne Zivilisation vorbereitete (vgl. Bahner, Aufklärung als europäisches Phänomen, 1985). Die europäische Aufklärung setzte den Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich aufgebrochenen Literatenstreit zwischen den „Alten" und den „Modernen", den Anhängern einer Nachahmung der Antike und den Vertretern einer gegenwartsorientierten Kunst, die Querelle des Anciens et des Modernes, fort, aber nunmehr auf gesamtkulturellem, „philosophischem" Gebiet, erstreckte sich auf alle Bereiche der Wissenschaften, Künste, von Kultur und Politik, erarbeitete sowohl neue Gebiete als auch neue Inhalte und Strukturen des menschlichen Wissens, mittels derer sie das alte metaphysische, von Antike und Mittelalter überkommene theologiezentrierte, spekulative Denken, gestützt auf die neuesten Ergebnisse der Naturwissenschaften, der Geographie, Anthropologie, überwandte.
Sie war keine einzelwissenschaftliche Schule, sondern errichtete ein en­zyklopädisches Gedankengebäude, das alle Wissenschaften, Künste und gesellschaftlichen Praxen umfasste, und die dieses in einem großen, man würde heute sagen interdisziplinären Kollektivunternehmen materialisierte, das in einer „Enzyklopädie", einem vielbändigen Konversationslexikon, das neue Wissen inventarisierte, archivierte und resümierte.
Jean-Jacques Rousseau war nicht zufällig einer der Autoren der Enzyklo­pädie, denn er war, weit mehr noch als die anderen Aufklärer, ein enzyklopädischer Geist, beherrschte und beschrieb viele Wissensgebiete. Fritz Schalk

(509) bescheinigt ihm unter Berufung auf J. Mercier „Mannigfaltigkeit", womit er eine „neue Orientierung über die Gesamtheit der geistigen Wirklichkeit" hervorgebracht habe (Hervorh. HOD).
Das Phänomen „Rousseau" zu erfassen, wäre also kein einseitig disziplinar ausgerichtetes Colloquium imstande gewesen. Dessen mannigfaltiges Oeuvre erheischte über die traditionell monothematischen, monodisziplinär gebundenen literarhistorischen oder philosophiegeschichtlichen Konferenzen hinaus ein inter-, sogar transdisziplinäres Vorgehen.
Diesem mannigfaltigen Werk entsprach die Berliner Konferenz durch ihre in ihrer Breite und Vielfalt wohl seltene Inter- und Transdisziplinarität. Sie war ein Diskussionsforum zwischen dem Juristen Hermann Klenner, dem Ökonomen Günter Krause, der Kulturwissenschaftlerin und Fachfrau für deutsch-französische Kulturbeziehungen Brunhilde Wehinger, dem Romanisten und Humboldtologen Ottmar Ette, dem Lateinamerikanisten Hans-Otto Dill, dem Professor für Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft Helmut Pfeiffer (der seinen Beitrag zum Thema „Genuss und Entstellung. Zu Rousseaus zweiter Reverie" leider nicht zur Publikation fertig stellen konnte), dem Altphilologen und Philosophiehistoriker Reimar Müller, der Erziehungswissenschaftlerin und Pädagogikhistorikerin Christa Uhlig und dem Pädagogen und Bildungsforscher Frank Tosch. Insofern sticht die Konferenz wohltuend ab von so manchen Veranstaltungen in der Vergangenheit, auf denen vorwiegend Literaturwissenschaftler sich der Materie „Rousseau" einschließlich seiner staatswissenschaftlichen, anthropologischen, pädagogischen, historiographischen und botanischen (sowie sprachwissenschaftlichen) Studien bemächtigten, diese als reine Hilfswissenschaften für den Hauptgegenstand, den Schriftsteller Rousseau, behandelten, ohne über mehr als laienhafte Kenntnisse auf diesen Fachgebieten zu verfügen. Gerade die dafür möglicherweise als Begründung herangezogene Tatsache, dass Rousseau selber ebenfalls auf diesen Gebieten dilettierte, macht die Heranziehung von kompetenten Spezialisten im interdisziplinären Kontext, wie auf der Berliner Konferenz geschehen, erforderlich.
Die Beiträge lassen sich wissenschaftssystematisch dem Werkprofil Rousseaus entsprechend unter Anthropologie/Geschichtsphilosophie, Sozial­geschichte/Politikwissenschaft, Pädagogik/Bildungswissenschaft sowie Botanik und Literaturwissenschaft subsumieren. Der Mannigfaltigkeit der Themen und Referenten kam das Profil der die Konferenz organisierenden Leibniz-Sozietät entgegen, einer nach Selbstverständnis und Mitgliederbestand interdisziplinären Gelehrtenvereinigung ganz im Geiste von Gottfried Wilhelm Leibniz.
Bei aller Vielfalt zog sich ein einigendes Band durch die Beiträge: Der innere Zusammenhang und motivstiftende Ausgangspunkt der so heterogen scheinenden Werke Rousseaus liegt in seiner grundlegenden, innovatorischen Menschheits-, Geschichts- und Gesellschaftskonzeption, wie er sie exemplarisch im „Gesellschaftsvertrag" niedergelegt hat.
Reimar Müller präsentiert in seinem eine große Masse relevanter Sekundärliteratur kritisch verarbeitenden Beitrag die anthropologiehistorischen und geschichtsphilosophischen Positionen Rousseaus als Grundlagen seiner Staats-, sozial- und politikwissenschaftlichen Lehren. Er zeigt, dass dieser seine gesellschafts- und staatspolitischen Kenntnisse, Erkenntnisse und Postulate durch fleißiges, gründliches und seriöses Studium und kluges Kollationieren der einschlägigen Quellen erworben hat. Es waren dies die Werke der vorgängigen und zeitgenössischen staatspolitischen Denker Europas, vor allem Frankreichs, Schottlands und Deutschlands, vorzüglich auch der der griechischen und römischen Antike. Damit widerlegt er auch die ver­breitete Ansicht, Rousseau sei als notorischer Autodidakt ein genialer Amateur gewesen, der seine Weisheit vor allem auf spekulativem Wege und abseits des Hauptstroms der europäischen Geistesgeschichte erworben habe. Besonderes Gewicht legt Müller - in indirekter Polemik gegen einseitige Interpretationen - auf die Ambivalenz bzw. Ambiguität der Rousseauschen Geschichtskonzeption und seines Menschenbildes sowie auf seine keineswegs schlicht rückwärtsgewandte, sondern im eigentlichen Sinne dialektische Wendung sowohl gegen ein linear-apologetisches Fortschrittsdenken wie gegen oberflächenhafte Verehrung der Segnungen von Künsten, Wissenschaft und Technik ohne Beachtung ihrer möglichen nachteiligen Folgen für die sittliche Entwicklung der Menschheit.
Im Unterschied zu den weit in die geistige Vorgeschichte des Rousseauismus zurückgreifenden Ausführungen des Altphilologen Müller springt der Jurist Klenner mitten in das französische und englische 18. Jahrhundert und in die Biographie des Weisen aus Genf. Er konzentriert sich dabei auf den po­litikwissenschaftlichen und staatsrechtlichen Kern der Rousseauschen Schriften, den „contrat social". Er rückt die für Rousseau grundlegende, von ihm, Klenner, wesentlich aus seiner Vita abgeleitete sozialpolitische Position des armen Plebejers Rousseau, seine unverkennbare Zugehörigkeit zur unterprivilegierten Klasse in den Mittelpunkt, die auch die entscheidenden Differen­zen zwischen dem „citoyen de Geneve" und den aristokratisch-großbürgerlichen „philosophes", also dem Haupttross der Enzyklopädisten um Voltaire, Holbach, Grimm, d'Alembert und auch Diderot erklärt. Besonders insistiert Klenner auf der allseitigen und höchst ungerechten und intoleranten Verfolgung Rousseaus durch Behörden und Klerus wegen seiner religiösen und politischen Heterodoxien und Häresien und auf seiner daraus resultierenden psychotischen Hypersensibilität. Dabei verweist Klenner auf das permanente Leiden Rousseaus unter den von ihm mit besonderer Schärfe und Empfindlichkeit wahrgenommenen und beschriebenen negativen, die Menschen sittlich korrumpierenden und depravierenden Züge von Geldgier und Egoismus, die die Gesellschaft im damaligen Frankreich charakterisierten und den Hauptgegenstand seines Protests und seines revolutionären Änderungswillens ausmachen, Züge, die dem Referenten zufolge bis heute anhalten und somit auf die Aktualität und Unabgegoltenheit seines philosophischen Erbes verweisen. Deshalb konzentriert er sich auf die Erläuterung von Rousseaus Hauptthema, die soziale und politische Ungleichheit der modernen Menschen und die ausstehende Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Gleichheit mittels eines neuen „Gesellschaftsvertrages".
Eine weitere Grunddimension Rousseauschen Denkens, die ökonomische, mit ihren einschneidenden Folgen für sein Gesellschaftskonzept, besonders für seine Theorie der sozialen Ungleichheiten, vor allem des grundlegenden Gegensatzes zwischen Reich und Arm, untersucht der Wirtschaftswissenschaftler Günter Krause. Er stellt viele Übereinstimmungen zwischen ihm und den Physiokraten, den Begründern der Wirtschaftswissenschaft in Frank­reich, fest, die beträchtlichen Einfluss auf ihn ausübten. Krause zeigt den Zusammenhang zwischen der realen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung Frankreichs, die zu jener Zeit noch von der Landwirtschaft dominiert wurde, und den bauern- und grundbesitzerfreundlichen, den Boden, das Erdreich, die Natur als Quellen des Reichtums herausarbeitenden, vorwiegend auf Natural­wirtschaft und Gebrauchswerteproduktion fokussierten Lehren der Physiokraten wie auch Rousseaus. Letzterer unterscheidet sich aber von ersteren durch seine Ablehnung der wirtschaftlichen Polarisierung zwischen Reich und Arm und seine Forderung nach Subsumtion der Wirtschaft unter die Bedürfnisse des Volkes als Ausdruck der volonte generale, des allgemeinen Volkswillens, durch einen neuen Gesellschaftsvertrag.
Von diesen theoretischen Basisuntersuchungen der Anthropologie, Sozial­lehre und Politischen Ökonomie Rousseaus durch Müller, Klenner und Krause geht die u.a. auf die deutsch-französischen Kulturbeziehungen spezialisierte Romanistin Wehinger zum Auftreten des Genfer Philosophen auf der politischen Bühne des 18. Jahrhunderts über und erörtert die Divergenzen und Konvergenzen im Denken zwischen zwei der Aufklärung zugehörigen und insofern „verbündeten" Protagonisten, dem absolutistischen preußischen König Friedrich II. und dem rebellischen Plebejer Jean-Jacques Rousseau. In ihrem Beitrag, der sich durch genaueste Kenntnis der Schriften beider, vor allem ihrer Korrespondenz, und die Ausgewogenheit der Darstellung und Wertung auf diesem sehr kontrovers diskutierten Feld auszeichnet, findet sie als einen Hauptdissenspunkt die Gegnerschaft des Pazifisten Rousseau gegen Friedrichs Kriegpolitik, aber auch manche überraschende Übereinstimmung heraus, so in den Ansichten beider über Erziehung. Auch der berühmte Einleitungssatz der grundlegenden Schrift Du contrat social ou prineipes du droit politique mit der Behauptung, der Mensch sei frei und ohne Ketten geboren, scheint Wehinger zufolge friderizianischen Ursprungs zu sein: beide kannten ihre jeweiligen Hauptschriften wie den Antimachiavell bzw. den Contrat social sehr gut - und bezogen sich meist indirekt, wie die Autorin zeigt, auf diese.
Geht es Wehinger um europäische Gesellschaft und Politik, so dem Pots­damer Romanisten Ette um die weltpolitischen, sozusagen terrestrischen Di­mensionen Rousseauschen Denkens im Kontext der auch von diesem mit ausgelösten weltbedeutenden Berliner Debatte über die „Neue Welt", die zu Lebzeiten Rousseaus vor allem in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin vorwiegend in französischer Sprache ausgetragen wurde, in der Rousseaus Begriff des bon sauvage eine Rolle spielte. Sie bedeutete laut Ette sowohl eine immanente Kritik des Eurozentrismus - eine von ihm als euphemistisch deklarierte Bezeichnung - als auch eine Apologie der sich in diesem Jahrhundert häufenden weltweiten Forschungsreisen und kolonialen Eroberungen, also der sich damals verstärkenden Globalisierungsvorgänge. Diese Debatte reflektierte die sozusagen planetarische Ausweitung der von Rousseau in seinem zweiten Diskurs beklagten sozialen wie politisch-staatsbürgerlichen Ungleichheit zwischen den Menschen auf das Verhältnis zwischen den privilegierten Europäern und dem Rest der Welt. Der diesen Berliner Akademiestreit auslösende holländisch-preußische Abbe Corneliusz de Pauw nahm mit seiner anthropologischen wie kulturellen Inferiorisierung der Indios Amerikas in seinen Recherches philosophiques sur les Americains, ou Memoires interessantspour servir a l'Histoire de l'Espece humaine, 2 Bde. Berlin, 1768-1769, den späteren Rassismus laut Ette vorweg. Demgegenüber finden sich laut dem Potsdamer Romanisten auf der anderen Seite, in der Akademie-Rede und den Schriften seines Kontrahenten, des Weltreisenden und Berliner Akademiemitglieds Pernety, Begleiter Bougainvilles auf dessen Weltumsegelungen, speziell in seinem Journal historique (Berlin 1769), Argumente, Denkfiguren und Begrifflichkeiten, die aus den Werken Rousseaus bekannt sind. Beispielsweise verfügten auch die amerikanischen „Wilden" Pernety zufolge über einen „Gesellschaftsvertrag", der sie zur gegenseitigen Solidarität verpflichtete. Letzterer betrachtete zudem in Rousseauschem Geist die Naturnähe der „sauvages" als eine Tugend, sogar als Entwicklungsvorteil.
Die bislang besprochenen Referate befassten sich vorwiegend mit den anthropologischen, kulturellen, sozialen und politischen Ungleichheiten der damaligen Welt, wie sie Rousseau sah und kritisierte. Insofern er diese Gebrechen nicht als dem menschlichen Wesen innewohnende unveränderliche Anthropologica, sondern als geschichtliche Produkte und Bewusstseinsphänomene ansah, mussten diese seiner festen Überzeugung nach außer durch Gesetze und Verfassungen, bzw. einen demokratischen Gesellschaftsvertrag auch durch einen Erziehungs-, bzw. Selbsterziehungs- und Interiorisationsprozess, den alle Gesellschaftsmitglieder zu durchlaufen hätten, abgestellt und ihre Persönlichkeitsentwicklung in eine dem Gemeinwohl förderliche Bahn gelenkt werden.
Die daraus resultierende ungemeine Hochschätzung der Pädagogik von Seiten Rousseaus, ja seine Fokussierung auf diese belegen die Referate von Uhlig, Tosch und Dill.
Rousseaus Romane Emile und Julie ou la Nouvelle Heloise werden von Uhlig bzw. Dill unter relativem Absehen von ihrem spezifisch ästhetisch­künstlerischen Charakter dem sozialen und gesellschaftspolitischen Hauptanliegen Rousseaus zugeordnet und als fiktionale Darstellungen seines Men­schen- und Gesellschaftsbildes mit Modell-, weniger mit Abbildcharakter interpretiert. Ihre grundlegende Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie vorführen, wie die Menschen aussehen, die nach Meinung Rousseaus entweder von der herrschenden absolutistisch-spätfeudalen, von ihm als dekadent angesehenen Gesellschaft verbildet oder von einer utopischen, demokratisch verfassten Kultur der Zukunft gebildet werden, sei es am Beispiel des Alum­nen Emile, sei es an dem der Alumna Julie. Beide Werke Rousseaus werden als sogenannte Erziehungsromane untersucht, als Vorläufer des „Experimentalromans", den Emile Zola in merkwürdiger Vornamenskoinzidenz mehr als hundert Jahre später schuf.
An Emile hebt Uhlig hervor, dass Rousseau erstmals in der Geschichte der Erziehung die Besonderheit der kindlichen Person in ihrem qualitativen Unterschied zum Erwachsenen herausstellt, die jeder Pädagoge berücksichtigen müsse. Dieser Roman handelt genau soviel vom Erziehungsgegenstand, dem Kind, wie vom Erzieher, von dessen Erziehungsziel. Bei letzterem geht es Rousseau laut Uhlig um die beste Methode, selbständig denkende und handelnde Menschen mittels gelenkter Selbsterziehung und Erfahrungslernen in einer Art „negativer Erziehung" heranzubilden, die Rousseaus Entwurf eines demokratischen Gemeinwesens als Vereinigung freier und gleicher Bürger entsprechen.
Die wahrhaft revolutionäre Stoßkraft dieser heute vielfach infolge ihres häufigen, schlagwortartigen Gebrauchs banal klingenden, obwohl noch immer nicht in voller Konsequenz durchgesetzten pädagogischen Glaubensartikel Rousseaus demonstriert Uhlig vor dem Hintergrund der damaligen autoritären Erziehungsgepflogenheiten. Diese billigten dem Kinde Gehorsam und Pflichten, aber keine Rechte zu. Als solche waren sie auch in Deutschland die Regel, womit die Referentin auch den nachhaltigen Einfluss Rousseaus auf die dortige Reformpädagogik, vor allem innerhalb der Arbeiterbewegung, erklärt.
Im Unterschied zu seinen revolutionären Maximen für die Erziehung der Knaben vertrat Rousseau Uhlig zufolge auf pädagogischem Gebiet ein bürgerlich-traditionelles Frauenbild mit einem auf Haus, Familie und Kinderer­ziehung fokussierten Rollenverständnis der Frau innerhalb der geschlechtlichen, von Rousseau mehr biologisch-naturhaft denn sozialhistorisch begründeten Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, eine Konzeption, die er anhand der Persönlichkeitsentwicklung Julies, der Protagonistin von Die Neue Heloise, vorführt. Doch Dills Untersuchung dieses Romans gilt weniger der stets dialogischen und kooperativen Erziehung und Selbsterziehung der Protagonistin auf moralischem, künstlerischem und wissenschaftlichem Gebiet durch ihren Hauslehrer und Geliebten St. Preux. Auch befasst er sich weniger mit ihrer Erziehung zur Führerin des ehelichen Hausstandes und Lenkerin der Entwicklung ihrer Kinder durch ihren Gemahl Herrn von Wolmar. Sein Hauptaugenmerk gilt vielmehr der exemplarischen Darstellung der lebensweltlichen utopistischen Vorstellungen Rousseaus vom bürgerlichen Privatleben: von Hauswirtschaft, Betriebswirtschaft, Ehe, Kindererziehung, Musik bis hin zu Ernährung, Gartengestaltung und den zwischenmenschli­chen Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn, Hausherren und Hausangestellten. Diese ideale Welt, die Rousseau aus seinen zentralen gesellschaftspolitischen Vorstellungen ableitet, konterkariert er laut Dill durch reportagehafte Exkursionen und essayistische Exkurse in die moralisch verkommene, durch Paris exemplifizierte zeitgenössische Außenwelt.

 

Nach diesen Grenzüberschreitungen des Politik- und Sozialwissenschaftlers Rousseau in Richtung Schöne Literatur behandelt der Bildungsforscher Frank Tosch dessen Lehrbriefe zur Botanik, die ihn als Pädagogen wie als Naturwissenschaftler, sozusagen als Vorläufer moderner Populärwissenschaft im Rahmen seines Menschenbildungsprogramms erweisen. Tosch behält stets die funktionale Abhängigkeit des naturwissenschaftlich­pädagogischen Denkens Rousseaus von seiner Staats- und Politiktheorie im Auge: Dabei bringt er Rousseaus Begriff der Natur sowohl mit seinem Konzept der „Natürlichkeit" wie mit seinem pädagogischen Grundanliegen der Menschenerziehung zur Naturliebe und letztlich auch mit seinem biogra­phisch erfahrenen therapeutischen Umgang mit der Natur als Gegenmittel gegen die Zivilisationskrankheit in Zusammenhang. Tosch steht nicht an, den ganzheitlichen, um nicht zu sagen holistischen Denker aus Genf mit seiner Verbindung von Naturwissenschaft, Sozialwissenschaft und Philosophie als einen Vorläufer der modernen Evolutionstheorie Darwins zu bezeichnen.
Zwecks Einordnung der Referate in ihren geistesgeschichtlichen Gesamt­kontext, der auf dem Colloquium infolge dessen Zielstellung keine Hauptrolle spielte, seien einige Bemerkungen zu drei Themenkomplexen vorausge­schickt:

1. Rousseaus Stellung unter seinen Zeitgenossen

2. Seine Vorläufer und seine Rezeption ihrer Schriften

3. Sein Weiterleben in der Rezeption durch die Nachwelt

...

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Hans-Otto Dill: Einführung: Die Berliner Rousseaukonferenz 2012

 

Herbert Hörz: Begrüßung. Jean-Jaques Rousseau und seine aktuellen provokanten Ideen

 

Reimar Müller: Rousseau als Geschichtsphilosoph

 

Hermann Klenner: „Die modernen Völker haben keine Sklaven, sie sind selbst welche."

 

Günter Krause: Jean-Jacques Rousseau – Begegnungen mit der Ökonomie

 

Brunhilde Wehinger: „Ich hasste unter seinem Namen einen Anderen." Rousseau und Friedrich II. von Preußen

 

Ottmar Ette: Von Rousseau und Diderot zu Pernety und de Pauw: Die Berliner Debatte um die Neue Welt

 

Christa Uhlig: Rousseaus „Emile oder Über die Erziehung" – eine permanente Herausforderung an die Pädagogik

 

Frank Tosch: „...die Pflanzen in ihrem natürlichen Zustand [...] kennenzulernen" – Zu Botanik und den botanischen Lehrbriefen Rousseaus

 

Hans-Otto Dill: Aufbruch des modernen Individuums oder Rückkehr in die Idylle? –Zum Verhältnis von Politiktheorie und Roman in Rousseaus Die Neue Heloise