[= Abhandlungen der Leibniz-Sozietät, Bd. 23], 2008, 296, mehr als 60 Abb., ISBN 978-3-89626-815-0, 49,80 EUR
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Prolog: Chronobiologie in Grenzbereichen, medizinische und gerontologische
Fragen inbegriffen 7
Rüdiger Hardeland
Pleiotropie und Metabolismus des Nachthormons Melatonin 13
Claus A. Pierach
Rhythmus, Arrhythmie und Lernen 41
Burkhard Poeggeler und Rüdiger Hardeland
Melatoninerge Chronobiotika: Wirkungen und Probleme 47
Dietmar Weinert
Altersabhängige Änderungen circadianer Rhythmen –
mögliche Ursachen, Konsequenzen und Behandlungsstrategien 65
Theodor Hellbrügge
The Development of Circadian Rhythms in Infants 97
Franz Halberg et al.
Eine geographisch unterschiedliche transdisziplinäre „Relativität“ verschiedener
„Jahreszeiten“ - Gegenseitig gestützte Ferntransjahre, Nahtransjahre und
Cishalbjahre in Sonnenmagnetik, Sonnenwind, Erdmagnetik und Biologie 125
Franz Halberg et al.
Vaskuläres Variabilitäts-Syndrom (VVS) und andere Chronomik
2005-2007
Chronobiologie in Grenzbereichen, medizinische und gerontologische Fragen
inbegriffen
Wer sich nie zuvor mit biologischen Rhythmen befasst hat,
dem mag deren Bedeutung in jener Lebensphase bewusst werden, in der eben diese
nicht mehr so effizient ihren Dienst tun, wie man es von ihnen zuvor gewohnt
war. Altersbedingte Abnahmen in der Schwingungsamplitude endogener
Tagesrhythmen, sog. circadianer Rhythmen, führen neben diversen vom Individuum
kaum bemerkten Änderungen z.B. zu Schlafstörungen oder auch zu nächtlichem
Harndrang, welcher nicht allein auf Grund urologischer Probleme und nicht nur
bei Männern auftritt. Zuvor hatte ein gut funktionierendes circadianes System
mit seinen nachgeschalteten Effektormechanismen dafür gesorgt, dass Einschlafen
und Durchschlafen – zumindest unter normalen Lebensumständen – kein Problem
waren. Der circadiane Schrittmacher im Zwischenhirngebiet des Hypothalamus, der
Suprachiasmatische Nucleus (SCN), hatte mit verlässlicher Regelmäßigkeit über
die Zwischenstation des Dorsomedialen Nucleus mit Hilfe eines Schlafschalters im
Ventrolateralen Präoptischen Nucleus Schlafaktivität ausgelöst und zugleich mit
dem Wachzustand verbundene Aktivitäten im Lateralen Hypothalamus unterdrückt
[1,2]. Melatonin, in seiner Funktion als Hormon des Pinealorgans (Zirbeldrüse),
hatte über Rezeptoren im SCN die Information über den Beginn der Dunkelheit
vermittelt und hierbei nicht nur den Zeitpunkt des Einschlafens mitbestimmt,
sondern zugleich den Einschlafvorgang selbst erleichtert. Die Robustheit des
Schwingungssystems im SCN garantierte in jüngeren Jahren die nächtliche
Permanenz der Position des Schlafschalters über eine ausreichende Anzahl von
Stunden. Altersbedingte Verminderungen in der Schwingungsamplitude des SCN
lassen diesen Mechanismus jedoch nicht zufriedenstellend arbeiten. Hinzu kommen
individuell verschieden starke, aber doch als Normalfall beobachtete Abnahmen
der nächtlichen Melatoninsekretion, die in höherem Alter beträchtlich sein
können [3] und die die Fähigkeit zum raschen Einschlafen vermindern.
Vergleichbar sind die Abnahmen in den Amplituden anderer Schwingungsparameter.
Die Harnbildung korreliert sinnvollerweise negativ mit dem Schlaf. Circadiane
Schwingungen mit z.T. hoher Amplitude sind für Exkretionsraten und die sie
kontrollierenden Hormone seit langem bekannt und vielfach studiert worden [4].
Ihre Abschwächungen führen zwangsläufig zu erhöhter nächtlicher Diurese.
Derartige Veränderungen werden regelmäßig festgestellt, nicht nur beim Menschen,
sondern ebenso bei anderen Wirbeltieren, die sich so als gerontologische
Untersuchungsmodelle eignen. Der Beitrag von Dietmar Weinert wirft ein Licht auf
die altersbedingten Änderungen der circadianen Rhythmik bei Versuchstieren
ebenso wie dem Menschen und verweist auf Möglichkeiten der Verbesserung
circadianer Funktionen im Alter.
Das in diesem Kontext bereits angesprochene Melatonin wirkt u.a. als sog.
Chronobiotikum, eine Substanz also, die an der Regulation und Phasenbestimmung
biologischer Rhythmen beteiligt ist. Wie in meinem eigenen Beitrag deutlich
wird, ist Melatonin jedoch nicht nur Hormon des Pinealorgans, sondern eine
Substanz, die aus diversen Quellen gespeist wird und eine Vielzahl von Effekten
erzeugt. Es wird auch in anderen Organen als dem Pineal gebildet und wird von
Geweben aufgenommen. Das Gewebemelatonin zeigt in Dynamik und Verstoffwechselung
Unterschiede zum zirkulierenden Melatonin aus dem Pinealorgan. Seine Rolle in
den Geweben ist von hohem Interesse, gerade wenn man die Konsequenzen der
altersbedingten Abnahmen des Melatonins verstehen will. Auch sind Verminderungen
des Melatonin-Spiegels nicht allein auf den Alterungsvorgang selbst beschänkt,
sondern treten oft verstärkt in der Folge altersassoziierter Erkrankungen auf,
wie Diabetes Typ 2, Coronarererkrankungen und, besonders auffällig, bei Morbus
Alzheimer [3,5]. Viele pathologische Änderungen im Alter werden heute mit
mitochondrialen Dysfunktionen und vermehrter Bildung freier Radikale in
Verbindung gebracht. Ein neues Konzept der Radikalvermeidung durch Melatonin mag
sich in diesem Zusammenhang als relevant erweisen, dies nicht allein unter dem
Aspekt mitochondrialer Wirkungen von Melatonin und seinen Metaboliten, sondern
auch hinsichtlich der chronobiologischen Rolle des Hormons, denn Störungen der
zeitlichen Ordnung führen zu erhöhten oxidativen Schäden von Biomolekülen [6].
Schließlich sei erwähnt, dass Melatonin nicht nur von Wirbeltieren gebildet
wird, sondern geradezu ubiquitär verbreitet ist. Es ist sogar eine natürliche
Komponente unserer Nahrung und kommt in manchen Pflanzen, insbesondere auch
Heilpflanzen, sowie Pilzen in hohen Konzentrationen vor, die jene in der
Zirkulation von Mensch und anderen Wirbeltieren um Größenordnungen übersteigen
[7,8].
Die chronobiotische Wirkung von Melatonin – die auf dem Hintergrund des zuvor
Gesagten nur einen Teilaspekt seines Funktionsspektrums betrifft – wird
gegenwärtig versucht durch spezifische melatoninerge Agonisten pharmakologisch
zu erzielen. Der Beitrag von Burkhard Poeggeler hat diesen Aspekt zum
Gegenstand. Substanzen wie das bereits von der FDA (Food and Drug
Administration) der USA zugelassene Ramelteon [9] vermögen über einen solchen
Wirkungsmechanismus schlaffördernd zu wirken, ohne Tagesmüdigkeit,
Abhängigkeits- oder Entzugserscheinungen zu induzieren. Ein weiterer
melatoninerger Agonist, Agomelatine, besitzt zugleich eine antagonistische
Wirkung gegenüber dem Serotonin-Rezeptor 5-HT2C, was zu einer Kombination der
Schlafförderung mit antidepressiven Effekten führt. Gleichwohl: Auch solche vom
Wirkungsspektrum her willkommenen und wirksamen Substanzen müssen grundsätzlich
kritisch auf ihre Verträglichkeit hin analysiert werden und dies über eine
längere Beobachtungszeit.
Ein ebenfalls mit zunehmendem Alter häufiger werdendes Problem betrifft
circadiane Dysregulationen, die ihre Ursache z.T. in Abschwächungen des
endogenen Oszillatorsystems haben mögen. An diesem Punkte ist es erforderlich
sich dessen bewusst zu werden, dass circadiane Rhythmen nicht die einzigen
Schwingungen darstellen, die ein Organismus hervorbringt, und dass ferner der
Körper auf periodische oder anderweitig fluktuierende exogene Einflüsse
reagiert, die bis hin jenen des Weltraumwetters reichen. Ein überaus wichtiger
Aspekt der circadianen Dysregulation ist jener einer pathologisch veränderten
Rhythmik des Herzkreislaufsystems, was sich in Abweichungen der
Herzratenvariabilität, im Überschwingen des Blutdrucks mit erhöhter Amplitude
oder in einer falschen Phasenlage des täglichen Blutdruckmaximums – im
ungünstigsten Fall in der Nacht – ausdrücken kann. Der erste Beitrag von Franz
Halberg betrifft vor allem diesen Punkt. Mit Recht weist er auf zwei Tatsachen
hin: Zum einen, dass derartige pathologische Änderungen in den circadianen und
infradianen (d.h. mit länger als circadianer Periode schwingenden) Rhythmen des
Herzkreislaufsystems ein höheres Erkrankungsrisiko darstellen als ein
Bluthochdruck per se. Zum anderen, dass es nicht ausreicht, den Blutdruck nur
wenige Male zu messen, sondern dass längere Messreihen unabdingbar sind, die die
Variationen nicht nur innerhalb eines Tages, sondern auch über möglichst mehr
als eine Woche erfassen, da ansonsten gesundheitlich kritische Abweichungen
unentdeckt bleiben können. Darüber hinaus vermögen die längerfristigen Messungen
Vorstufen von Erkrankungen zu offenbaren, die dann eine frühzeitige Behandlung
erlauben. Eine Homepage zu diesem Thema soll die Öffentlichkeit ansprechen und
bei den erforderlichen Messungen helfen (s. der diesbezügliche Appendix zu jenem
Beitrag).
So wie einerseits das circadiane Schwingungssystem im Alter an
Funktionsfähigkeit verlieren kann, so ist es auf der anderen Seite in der frühen
Individualentwicklung noch nicht ausgereift. Der hier nachgedruckte Beitrag von
Theodor Helbrügge stellt einen wahren Klassiker und Meilenstein im Verständnis
der postnatalen Entwicklung der circadianen Rhythmik beim Menschen dar. In der
Beschreibung dieser Prozesse hat jener Beitrag trotz der vielen Jahre seit
seiner erstmaligen Präsentation nichts an Richtigkeit eingebüßt. Allein unsere
Vorstellungen von den Mechanismen der Reifung haben sich fortentwickelt, etwa
was die Kopplung von Oszillatoren im Schrittmacher SCN angeht.
Die klassische Chronobiologie beschäftigt sich mit endogenen Rhythmen, also
solchen, die ein Organismus oder eine Zelle selber hervorbringt. Daneben war
hingegen immer die Möglichkeit andersgearteter Rhythmen im Bewusstsein der
Chronobiologen. Zweifellos existieren von außen aufgeprägte, exogene Rhythmen
ebenfalls, etwa bei phototrophen Organismen in Form lichtabhängiger oder
lichtinduzierter Rhythmen, die sich allerdings oft mit endogenen, circadianen
Rhythmen überlagern. Claus Pierach wendet sich u.a. der Frage zu, inwieweit
Rhythmen auch gelernt werden können. In ganz allgemeiner Weise wird man dies
überhaupt nicht bestreiten können, z.B. wenn es um motorisches Lernen geht.
Gewiss wird ein Mensch einen Takt bestimmter Frequenz zu erlernen im Stande
sein. Die interessante Frage hieran ist, ob bereits eine einzelne Zelle so
programmierbar ist, dass sie für eine Weile einen aufgeprägten Rhythmus weiter
beibehält, wenn der äußere Zwang zum rhythmischen Verhalten aufgehoben wird.
Ein anderer, unser Verständnis in prinzipieller Weise erweiternder Grenzbereich
der Chronobiologie ist Gegenstand des umfassenden zweiten Beitrags von Franz
Halberg und seinen Koautoren. Gerade diese Autoren haben über lange Zeit
dezidiert für die endogene Natur biologischer Rhythmen gestanden, wiewohl deren
wichtigste mit geophysikalischen Periodizitäten wie Tag, Mondzyklus und Jahr
korrespondieren und von diesen synchronisiert werden. Es ist umso
bemerkenswerter, dass gerade aus den Arbeiten dieser Exponenten endogener
Rhythmik Befunde zu Tage treten, die Einflüsse exogener geophysikalischer bzw.
heliologischer Prozesse deutlich werden lassen, welche von den klassischen
Zyklen abweichende Periodenlängen aufweisen, z.B. so genannte Transjahre, d.h.
Rhythmen einer Länge von mehr als einem Jahr, die sich sowohl in
heliophysikalischen Datensätzen wiederfinden wie auch in biologischen.
Nachweisbar waren solche Transjahre in Daten über den plötzlichen menschlichen
Herztod, über Blutdruck und und Exkretionsparameter. Oft traten hierbei
erhebliche geographische Unterschiede zu Tage, was nicht überrascht, denn zum
einen wirkt sich der Sonnenwind geographisch verschieden aus, zum anderen sind
die gemessenen Parameter multifaktoriell beeinflusst. Erst eine detaillierte,
wie Franz Halberg sagen würde, zeitmikroskopische Analyse mit den von ihm und
seinen Mitarbeitern entwickelten Techniken der Inferenzstatistik ließen
derartige Rhythmen erkennen. Die sich hieraus ergebenden Weiterungen sind
grundsätzlicher Natur. Die Rhythmen „um uns und in uns“, wie Franz Halberg sagt,
sind in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen, wenn man die periodischen
Lebensäußerungen von Organismen einschließlich des Menschen angemessen
beurteilen will. Dies ungeachtet der Tatsache, dass man für analytische Zwecke
oft auch reduktionistisch vorgehen und einzelne dieser Rhythmen so weit wie
möglich „isoliert“ untersuchen muss. Die Beachtung der enormen Komplexität des
biologischen Zeitverhaltens führt in weitere Grenzbereiche der Chronobiologie,
etwa die Übergänge von rhythmischem Verhalten im engeren Sinne in chaotische,
aber gleichwohl strukturierte, repetitive Prozesse, die in den langperiodigen
Variationen gewiss enthalten sind. Ferner lassen sich unter Randbedingungen, wie
etwa im Dauerlicht, Schwingungen von ca. siebentägiger Dauer (circaseptane
Rhythmen), die ebenfalls mit geophysikalisch-heliologischen Variationen
korrespondieren, manchmal mit größerer Klarheit nachweisen als unter natürlichem
Hell-Dunkel-Wechsel und können über den Tagesrhythmus sogar dominieren, dies
selbst bei Einzellern. Auch ein „Naturexperiment“ kann zu einem solchen Ergebnis
führen, wie ein höhlenbewohnendes, im ständigen Dunkel lebendes Urinsekt belegt.
Die Halbergsche Interferenzstatistik hat auch den letztgenannten Fällen ihren
guten Dienst erfüllt. Die circaseptanen Rhythmen geben uns starke Hinweise
darauf, dass die Rhythmen um uns in ihrer dauerhaften Einwirkung auf Organismen
multiple periodische Anpassungen hervorgerufen haben und nicht allein auf Tag,
Mondmonat und Jahr reduziert werden dürfen. Die Grenzbereiche der Chronobiologie
erscheinen noch bei weitem nicht ausgelotet.
Göttingen, d. 17.07.2007
Rüdiger Hardeland
Literatur
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