Johann Caspar Struckmann (Hrsg.)

Bibliographie zur Geschichte des Alltags. 
Band 1: Titel bis zum Erscheinungsjahr 2000

trafo verlag 2008, 427 S., ISBN 978-3-89626-703-0, 59,80 EUR

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EINLEITUNG

Die Geschichte des Alltags ist innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft ein lange umkämpftes Thema gewesen. Mittlerweile haben sich die Wogen gelegt, die Auseinandersetzungen der achtziger und neunziger Jahre sind überwunden und einer nüchternen Betrachtungsweise gewichen. Da mag es nützlich sein, Bilanz zu ziehen und in einer ersten Übersicht das Schrifttum zu sichten, das sich dem Themenkomplex Alltag widmet. Denn in der Tat: Alltag ist ein weites Feld, seine Dimensionen reichen vom kleinsten bis zum größten, da die Zeugnisse menschlicher Taten und Denkvorstellungen, die "Überreste" nach Johann Gustav Droysen ein breitestes Spektrum darbieten: "In der Natur der Sache liegt es, daß deren Fülle unabsehbar ist, da ja alles und jedes, was durch Menschenhand und Menschengeist hindurchgegangen und deren Gepräge trägt, gelegentlich als unmittelbare Quelle benutzt werden kann"/1/. In einer ersten großen Übersicht unterscheidet Droysen drei Faktoren, die das Wesen der geschichtlichen Welt ausmachen: 1. "die Gegebenheit des animalischen Daseins mit allen den Bedingungen, Schwächen, Bedürfnissen, Unzulänglichkeiten, die es als ein Stück Naturleben an sich hat", 2. "die mitgeborene Geistesnatur mit ihrer unendlichen Erregbarkeit und Expansivkraft, mit ihrem unbezwinglichen Drang, in sich zu} gravitieren und bestimmender Mittelpunkt zu sein" und schließlich 3. "jene vielen gewordenen Gestaltungen, die den Menschen erfassen, ihn bestimmen und bewegen, jeden nach seiner Art alle zugleich, in jedem Augenblick, unablässig"/2/. Von den einfachen Lebensbedürfnissen über ein aktiv gestaltetes Dasein bis zur gesellschaftlich bestimmten Rolle.

Es läßt sich leicht vorstellen, daß die Geschichtswissenschaft angesichts der Fülle des Stoffes ihre Aufmerksamkeit nicht allen Teilaspekten von Alltag gleichmäßig intensiv hat widmen können oder wollen. Diese Varianzen zeigen sich bereits in dem Kenntnisstand, der durch die bis heute erschienene Literatur vermittelt wird. Hier sind die Unterschiede teilweise beträchtlich. Maßstab ist einmal das Mehr an Wissen gegenüber früher, zum anderen der internationale Vergleich. Aber das Wünschbare ist nicht immer auch machbar. Dem stehen unterschiedliche Hindernisse entgegen. Zum einen ist auch die Geschichtswissenschaft "Kind ihrer Zeit", kann nur auf dem aufbauen, was ihr vorgegeben ist. Bestimmte Präferenzen oder Defizite der deutschen Geschichtswissenschaft erklären sich aus der deutschen Vergangenheit und dem Erbe der Naziherrschaft wie dem Mangel an demokratischen Traditionen. Zum anderen bieten erst die verdinglichten Überreste früherer Zeiten die Voraussetzungen für das Studium der Lebensverhältnisse jener Tage. Diese Spuren ausfindig zu machen, zu bewerten und für die Interpretation zu gewichten ist eine oft mühsame und zeitaufwendige Sache. Sie steht dem schnellen Erfolg entgegen. Der kann sich da gar nicht erst einstellen, wo die Überlieferung ganz fehlt infolge von Kriegsverlusten der schriftlichen Überreste.

Auf der Habenseite historiographischer Bilanzierung von Alltag steht eine Reihe von Schriften, die bereits in jüngerer Zeit Überblicke geboten haben. Da ist in erster Linie die "Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte" von Hans-Ulrich Wehler zu nennen. In ihrer Anfang der neunziger Jahre erschienenen zweiten Auflage bietet sie auf über vierhundert Seiten ein breites Spektrum von Informationen zu insgesamt 73 Themengruppen inklusive Alltag und Kulturgeschichte/3/. Für die ältere Literatur wertvoll bleibt auf ihrem Teilgebiet die "Bibliographie zur Geschichte der Kindheit, Jugend und Familie" von Ulrich Hermann, Susanne Renftle und Lutz Roth aus dem Jahr 1980/4/. Dem Spezialthema Metrologie widmete sich Harald Witthöft in einem dreibändigen Handbuch ebenfalls Anfang der neunziger Jahre/5/. Aus Österreich schließlich stammt die Zusammenfassung der Literatur über Dienstboten und Gesinde aus dem Jahr 1996/6/. Insofern bietet die hier vorgelegte Bibliographie eine Fortschreibung schon vorhandener Leistungen. Auf der anderen Seite nimmt sie diverse Themen auf, die in den Zusammenhang des Generalthemas Alltag gehören. Entsprechend der Fülle der Einzelaspekte entsteht ein farbiges Bild menschlichen Lebens, steht das Banale neben dem Erhabenen. Daß es lohnen kann, auch "niedere" Lebensumstände aufzuschlüsseln und für historische Erkenntniszwecke fruchtbar zu machen, hat nicht nur die Volkskunde bewiesen, dafür stehen auch vielfache Studien angelsächsischer und französischer Fachkollegen. Alltag hat inzwischen auch in Deutschland Akzeptanz gewonnen. Welchen Stand seine Erforschung mittlerweile erreicht hat bzw. welche Felder nach wie vor unbeackert blieben , soll im folgenden an einigen Teilthemen in skizzenhafter Form gezeigt werden.

1. Armut.

Sie wird in der Sozialgeschichte vielfach mit Unterschichten und Randgruppen in Verbindung gesehen. Obwohl diese Parallelisierung naheliegt, bedarf es doch der Differenzierung in Untergruppen und Ursachen für die Lebenshaltung auf niederem Niveau. Als ausschlaggebend erweisen sich vielfach sowohl die Arbeitsmöglichkeiten wie das Sozialprestige der Tätigkeiten. Teuerungen und Hungerkrisen verschärften die Lage der Armen. Das Los der ländlichen Unterschichten ist von dem der städtischen zu unterscheiden. Die deutschen Historiker haben ihr Augenmerk bisher besonders auf die frühe Neuzeit gerichtet. Die späteren Phasen mit Bevölkerungswachstum, Preisanstiegen und zunehmender Staatsintervention in der vorindustriellen Phase lassen noch manche Lücke erkennen, wie Gerhard Fouquet 1995 konstatierte/7/. Inzwischen allerdings liegen etliche Studien zu lokalen und regionalen Verhältnissen im 17. und 18. Jahrhundert vor, die die Defizite zu begrenzen in der Lage sind.

2. Denunziation

Wie sich zeigt, hat die üble Praxis der Anschwärzung von unliebsamen Personen bei der Obrigkeit eine lange Tradition: Fälle von Denunziation sind schon für die Zeit der Französischen Revolution belegt. Die zeitliche Spanne reicht bis in die Nachkriegszeit. Die Motive der Täter sind unterschiedlichster Art, sie handeln aus Neid oder Haß bis zu Bosheit und Machthunger. Die Opfer sind zumeist sozial höher gestellt, ihre Bloßstellung unter autoritären oder totalitären Regimen galt vermeintlich als Akt von Gerechtigkeit, versprach für die Täter persönliche oder sachliche Vorteile. Für die Nazizeit liegt inzwischen eine Reihe von Untersuchungen vor. Was noch aussteht, sind entsprechende Studien über die DDR.

3. Feste.

"Die Festkultur gewann in den letzten Jahren vermehrt die Aufmerksamkeit der Sozialhistoriker …"/8/ Die Feststellung Wolfgang Krabbes vom Jahre 1994 trifft zu. Wenn er aber einschränkt, dieses Interesse betreffe mehr die öffentlichen Festveranstaltungen/9/, so ist das nur die halbe Wahrheit. Wohl beweist sich an Festen die Verführbarkeit des Menschen auf anschauliche Weise, wie es die Herrschenden von den römischen Kaisern ("Brot und Spiele") bis zu den faschistischen Diktatoren zu nutzen wußten. In den Blick kamen inzwischen aber auch die minder spektakulären Ereignisse wie Feiern religiöser Gemeinschaften, ländliche Feste, städtische Lustbarkeiten. Die Neigung des Menschen zur Erhöhung des Alltags kennt viele Formen, und sei es die Errungenschaft eines Industriebetriebes, eine besonders hohe Zahl von Produkten hergestellt zu haben./10/

4. Flüchtlinge, Auswanderer, Vertriebene, Deportierte, Zwangsarbeiter.

Wanderungsbewegungen, seien sie durch politische oder wirtschaftliche Faktoren verursacht, durchziehen die letzten beiden Jahrhunderte. Die deutsche Forschung hat sich dieser Massenbewegungen angenommen, wenn auch, wie einzelne Fluchtbewegungen zeigen, erst verhältnismäßig spät: die politischen Flüchtlinge der Revolution von 1848/49 und ihre Asylgesuche im westlichen Ausland wurden erst Anfang der neunziger Jahre durch Herbert Reiter genauer erforscht/11/, womit ein bis dahin "vernachlässigtes Thema"/12/ zu seinem Recht kam. Hier wie bei den aus freien Stücken Gegangenen interessiert die Forschung die Integration in den Aufnahmeländern, sowohl die persönliche Bereitschaft dazu wie die Bedingungen in der neuen Umgebung. Vor die gleichen Probleme sahen sich im 20. Jahrhundert die vor der Naziherrschaft Geflüchteten gestellt. Umgekehrt erlitten die Zuwanderer ein ähnliches Schicksal , seien sie aus religiösen Gründen gekommen (Hugenotten), als Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten oder als Zwangsarbeiter während des Krieges. Integrationsbemühungen der Gesellschaft und Akkulturationsleistungen der Individuen nach Ende des Krieges sind inzwischen mehrfach abgehandelt worden, Beispiele bieten Wolfgang Eckart über Flüchtlingsbetriebe in Nordhessen/13/ und Paul Erker mit seiner Sozialgeschichte der Flüchtlinge in Mittelfranken/14/. Erst in den letzten Jahren fanden Zwangsarbeiter als spezielle Opfer der Gewaltherrschaft die Aufmerksamkeit der Sozialhistoriker.

5. Frauen

Frauengeschichte hat ihren Charakter als wenig beachtetes Nischenfach verloren. Und zumindest ein Zweig ist in den letzten Jahren besonders stark gewachsen, der der mittelalterlichen Frauengeschichte. Als "kaum mehr übersehbar" gilt die Literatur zu diesem Gebiet/15/. Von Massenfertigung zeigt sich Carl Hammer beeindruckt: "Wie die Bibliographie dieses Werkes [ebenfalls über Frauen im Mittelalter] gut dokumentiert, hat sich die neue Frauengeschichte innerhalb der letzten 10 bis 15 Jahre zu einer Industrie beachtlichen Ausmaßes entwickelt"/16/. Das Problem der Quantität dürfte sich für die Frauengeschichte der Neuzeit noch nicht stellen. Hier ging und geht es um Fragen der Bildung und Berufstätigkeit und inzwischen vermehrt um die Position von Frauen zur Naziherrschaft und ihre Rolle beim Wiederaufbau nach 1945.

6. Frömmigkeit/Religiosität

Während die Rolle der Kirchen in wirtschaftlicher und politischer Beziehung immer wieder mal zum Thema wird, sind Fragen von Volksfrömmigkeit und die soziale Rolle von Religion lange unbehandelt geblieben. Es sind gleich mehrfach Defizite zu beklagen: 1. Volksglaubens- und Volksfrömmigkeitsforschung der frühen Neuzeit stehen erst am Anfang/17/. 2. Wenn entsprechende Themen abgehandelt wurden, so waren die Autoren nicht Historiker sondern Kirchenhistoriker; Tillman Bendikowski konstatiert eine "jahrelange Ignoranz" der Geschichtsforschung "gegenüber religiösen und konfessionellen Fragen". 3. Die die Neuzeit behandelnde Literatur widmet sich schwerpunktmäßig Fragen von katholischer Frömmigkeit, protestantische Verhaltensmuster sind deutlich weniger behandelt worden.

7. Gesinde/Dienstboten

Fragen nach Lebenshaltung, Mobilität, politischen Einstellungen usw. der Dienstboten früherer Epochen mußten bisher weitgehend unbeantwortet bleiben. Für die Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts konstatierte Gerhard Fouquet im Jahre 1995 unübersehbare Forschungsdefizite/18/. Durch die Bibliographie von Claudia Harrasser ist zumindest die einschlägige Literatur zugänglich geworden. Es kommt nun darauf an, durch weitere Quellenstudien neue Erkenntnisse zutage zu fördern.

8. Hof, Fürsten- und Königshof

Abseits der "großen Politik" steht hier die Residenz eines Fürsten, also die Machtzentrale und der ständige Wohnsitz im Mittelpunkt des Interesses. Es sind die Sozialgeschichte der Hofleute, die Bedeutung des Zeremoniells, die Art des Wohnens, die Entfaltung von Luxus oder eventuell auch die Einfachheit des Alltagslebens, die in Frage stehen. Für das spätmittelalterliche Reich war das Interesse in jüngerer Zeit gewachsen, entsprechend wuchs die Zahl von Neuerscheinungen, wie Kurt Andermann feststellt/19/. Dem Thema ist auch ein Arbeitsbereich der Akademie der Wissenschaft in Göttingen gewidmet, seine Ergebnisse liegen in der Reihe Residenzenforschung vor. Wünschenswert wäre ein noch stärkeres Eingehen auf die Höfe geistlicher Würdenträger, sie sind bisher unterrepräsentiert.

9. Kleidung

Vor knapp zehn Jahren hat Robert Jütte beklagt, die Geschichte der Kleidung sei von deutschen Historikern nur ganz am Rande wahrgenommen worden, er vermutete gewisse Berührungsängste/20/. Immerhin sah er Anzeichen eines Wandels, indem "erst in den letzten Jahren … vereinzelt auch bundesrepublikanische Historiker dieses interdisziplinäre Terrain betreten"/21/. In der Tat besitzt Kleidung außer der Schutz- und Dekorationsfunktion soziale Aussagekraft, die in der Vergangenheit sehr viel stärker ausgeprägt war. Diesen Gehalt zu benennen, Mode auch als Abgrenzungsfaktor zu sehen sowie als Wirtschaftsfaktor zu erkennen, ist nun auch in Deutschland als historischer Ertrag der Geschichte der Kleidung erkannt worden. Volkskundliche Arbeiten wie z.B. die von Martha Bringemeier/22/ haben bereits wertvolle Erkenntnisse erbracht. Es ist zu wünschen, daß mehr deutsche Historiker sich dieser Teildisziplin zuwenden werden.

10. Kriminalität/Delinquenz

Sozialschädliches, strafwürdiges Verhalten ist die Negativseite menschlichen Zusammenlebens. Seine Erforschung ist auch Teil der speziellen Rechtsgeschichte, aber die Geschichtswissenschaft hat die Aufgabe, die historischen und sozialen Bedingungen und Hintergründe zu erhellen und zu analysieren. Was das Mittelalter betrifft, so ist Frankreich mit zahlreichen regionalen und allgemeinen Studien vorangegangen. In Bezug auf das Spätmittelalter sind für Deutschland bislang "nur vereinzelte neuere historische Ansätze"/23/ zu registrieren. Dieser Befund hat sich bisher bestätigt. Der zeitliche Schwerpunkt der deutschen Kriminalitätsforschung liegt im 18. und 19. Jahrhundert. Zunehmend werden Frauen als Täterinnen und Opfer besonderer Notlagen "entdeckt".

11. Körper, Sport, Krankheit, Tod

Die Geschichte des Körpers ist ein breites Feld. Es umfaßt sowohl Entstehung von Leben (Geburt) wie dessen Ende (Alter, Tod und Selbstmord), Pflege des Körpers sowie Fortpflanzung (Sexualität und ihre Formen), Wahrnehmung einzelner Körperteile (Bart, Brust …) wie auch Beeinträchtigung durch Krankheiten und Formen von Krankenpflege. Dazu zählt ebenfalls die Geschichte der speziellen Berufe wie Hebamme und Arzt. Die deutsche Geschichtsforschung hat sich der Geschichte des Körpers erst zögerlich genähert. Diese ist vorläufig "noch weitgehend englisch und insbesondere amerikanisch geprägt"/24/ – eine späte Folge der Körperfeindlichkeit des deutschen Bürgertums? Eine Konsequenz dieser Retardierung ist das erst in den neunziger Jahren erwachte Interesse an Seuchen und Epidemien. Jetzt erst liegen erste Studien zu Pest und Cholera in bestimmten Regionen vor, eine Gesamtgeschichte für Deutschland steht auf absehbare Zeit noch aus: "Von einer Sozialgeschichte der großen Epidemien oder Volksseuchen … ist die deutsche Medizingeschichte noch weit entfernt"/25/.

12. Lesen, Schule, Lehre, Studium

"Wer alle Schulbräuche der Vorzeit, die Feste und Freuden der Kinder aber auch die für sie bereit gehaltenen Strafen sammeln wollte, könnte ein anziehendes Buch davon schreiben"/26/. Seit dieser Anregung Jacob Grimms aus dem 19. Jahrhundert ist die Institution Schule bereits anschaulicher geworden, etwa durch Sammlungen von Schulerinnerungen, wie sie z.B. Martin Gregor-Dellin vorgelegt hat/27/. Aber den Schulalltag systematisch zu erkunden, dazu ist es bisher noch nicht gekommen. Angeblich fehlen dafür die schriftlichen Quellen, wie wiederholt festgestellt wurde/28/. Dabei könnten, würden sie nur herangezogen, die Schulprogramme oder Jahresberichte höherer Schulen eine entscheidende Hilfe bieten. – Seit Ende der achtziger ist die Geschichte der Studenten ein häufiger abgehandeltes Thema. Seien es die studentischen Verbindungen oder die soziale Zusammensetzung der Hochschüler an einem Ort, der akademische Nachwuchs hat erfreulich an Aufmerksamkeit gewonnen. Es bleibt zu hoffen, daß eine übergreifende Sozialgeschichte des deutschen Studentenwesens nicht allzulange auf sich warten läßt. – Lehrlinge sind immer noch eine wenig bekannte Berufsgruppe. Auswahl, Ausbildung und Status müssen interessieren, um Rang und Leistung des Handwerks beurteilen zu können. Hier besteht noch erheblicher Forschungsbedarf.

13. Soldaten

Um die Sozialgeschichte der Soldaten ist es im deutschen Sprachraum noch schlecht bestellt. Erst zaghaft wächst wieder ein Interesse an den Trägern der bewaffneten Macht, nachdem im Dritten Reich die Wehrgeschichte und die Erziehung zur Wehrhaftigkeit für politische Zwecke mißbraucht wurden und alle neuen, objektiven, seriösen Ansätze für lange Zeit diskreditiert waren. Wenn in Westdeutschland "nach 1945 eine fast vollständige Abstinenz von jeglicher Beschäftigung mit dem Faktor Militär begründet"/29/ schien, so hat sich das Bild inzwischen etwas aufgehellt. Denn immerhin liegen seit Ende der achtziger Jahre einige Arbeiten zur frühen Neuzeit, über Söldner und Landsknechte vor. Das Hauptaugenmerk richtet sich aber auf die Neuzeit. Die neuen Schwerpunkte liegen bei den Angehörigen der Wehrmacht, teils in Form persönlicher Erinnerungen, teils als Gefangene, mehr zwar bei den deutschen, aber auch sowjetische und andere werden thematisiert. Das schließt nicht aus, daß vorangegangene kriegerische Auseinandersetzungen wie deutsch-französischer Krieg und Erster Weltkrieg ebenfalls abgehandelt werden, sie spielen thematisch aber eher eine Nebenrolle. Die neue Unvoreingenommenheit gegenüber dem Thema machte auch den Blick frei für das Gegenbild des Kämpfers, nämlich den Verweigerer bzw. Deserteur: in den neunziger Jahren sind ihnen mehrere Arbeiten gewidmet worden. Und noch mehr: Die Besatzungsphasen und Unterdrückungsmethoden bzw. Verbrechen der Wehrmacht bleiben nicht länger tabu. Wo die kämpfende Truppe nicht mehr glorifiziert wird, kommen auch die Opfer ans Tageslicht, die Invaliden und Krüppel. – Nach der Wiedervereinigung öffnete sich ein weiteres Tor: erste Erinnerungen von Offizieren der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR erlauben einen Blick auf die Geschichte der Streitkräfte jenes deutschen Teilstaates. – Von einer "Militärgeschichte des kleinen Mannes", wie sie Wolfram Wette vorschwebt/30/, ist die deutsche Forschung noch weit entfernt. Sie hat damit ein ehrgeiziges Ziel vor Augen.

14. Wohnen

Das Grundbedürfnis Wohnen hat als Gegenstand historischer Forschung in Deutschland in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen: "Man hat mit Recht behauptet, daß die deutsche Wohngeschichte an Breite wie methodischer Reflektierung zu der lange Zeit führenden britischen "Housing story" aufgeschlossen hat"/31/. Breite bedeutet hier sowohl die soziale Spanne: die Aufmerksamkeit richtet sich von der Situation im Dorf und auf Arme auch auf Arbeiter wie auf städtische Verhältnisse und reicht bis in gehobene Sphären fürstlichen Lebens. Andererseits heißt Breite auch zeitlich weit gefaßt: das Interesse erstreckt sich von der Antike bis in die Neuzeit. Selbst die Verhältnisse in der Bundesrepublik werden allmählich zum Thema. Dagegen ist die Wohngeschichte der ehemaligen DDR erst noch zu entdecken. Da Wohnen stets ein Doppelcharakter innewohnt – zugleich Alltag und Lebensstandard für den Einzelnen wie Orts- oder Stadtgeschichte für die Allgemeinheit – kommt seiner Geschichte eine wichtige Rolle zu.

"Anthropologische Fragestellungen sind heute selbstverständlicher Bestandteil des historischen Interesses"/32/. Wenn dem so ist, dann verdienen auch die kleinen Einheiten, das scheinbar Unbedeutende, Randständige Beachtung. Nicht mehr nur die "Geschichte des Machens, der Initiativen, Pläne und Projekte", sondern die "Folgen, das Erleiden und Scheitern" sowie das "Wahrnehmen und Reagieren"/33/ gehören zum Bestandteil von Geschichte. Nicht länger nur die Eliten stehen im Mittelpunkt des Interesses, auch die kleinen Leute, das gemeine Volk erhalten ihren Platz auf der historischen Bühne. Insofern ist es gerechtfertigt, von einem "demokratischeren Geschichtsverständnis"/34/ zu sprechen, demzufolge alle Menschen potentiell Geschichte gemacht oder ertragen haben.

Es ist die Absicht dieser Bibliographie, einen möglichst repräsentativen Überblick über die Literatur zur Geschichte des Alltags zu bieten. Jeder Anspruch auf Vollständigkeit auch nur in Teilaspekten wäre illusorisch, da sowohl der Alltag selbst wie seine historische Erarbeitung sich einer Totalerfassung entziehen. Daran hat sich seit Droysens Zeit nichts verändert: die Fülle ist – und bleibt – "uferlos". Da Alltag nicht isoliert zu betrachten ist, schien es ratsam, den jeweiligen Rahmen mit anzugeben. Diesem Zweck dient die am Schluß der Kapitel aufgeführte "allgemeine Literatur". Auch sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das Kapitel "Mosaik" versammelt alle jene Themen, zu denen nur kleinere Mengen von Literatur vorliegen.

Um die Geschichte des Alltags ist es in den letzten Jahren ruhiger geworden. Ging es bei ihr tatsächlich nur um ein "modisches" Interesse, wie Alexander Reck anklingen läßt/35/? Immerhin konzediert dieser Beobachter der deutschen Geschichtsschreibung, es seien in den letzten Jahren doch einige bemerkenswerte deutsch-sprachige Publikationen und Quelleneditionen erschienen, die der Sache nicht abträglich waren. In welcher Breite und Vielfalt der Alltag inzwischen abgehandelt worden ist, davon will diese Bibliographie für die Zeit von den achtziger Jahren bis einschließlich 2004 Zeugnis ablegen.

 

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/1/ Johann Gustav Droysen, Historik. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Peter Leyh. Bd. 1, Stuttgart 1977, S. 71.

/2/ Ders., ebenda, S. 18.

/3/ Hans-Ulrich Wehler, Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte. 2. Aufl. München 1993. 439 S. Siehe S. 25.

/4/ Siehe S. 219.

/5/ Siehe S. 263.

/6/ Claudia Harrasser, Von Dienstboten und Landarbeitern, siehe S. 34.

/7/ Gerhard Fouquet, Rezension von: Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit. München 1995. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 84 (1997). S. 399–400 (3399).

/8/ Wolfgang R. Krabbe , Rezension von Manfred Hettling u. Paul Nolte (Hg.), Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert. In: VSWG 81 (1994), S. 271.

/9/ Ders., ebenda.

/10/ Dieter Vorsteher, Das Fest der 1000. Locomotive. Ein neues Sternbild über Moabit. In: Katalog zur Ausstellung „Die nützlichen Künste". Berlin W 1981. S. 90–98; siehe S. 105.

/11/ Herbert Reiter, Politisches Asyl im 19. Jahrhundert. Die deutschen politischen Flüchtlinge des Vormärz und der Revolution von 1848/49 in Europa und den USA; siehe S. 67.

/12/ Irmtraud Götz v. Olenhusen in ihrer Rezension des Buches von H. Reiter in VSWG 84 (1997),
S. 226.

/13/ Siehe Seite 52.

/14/ Ebenda.

/15/ So Hans-Werner Goetz, Leben im Mittelalter vom 7. bis zum 13. Jahrhundert. 6. Aufl. München 1996, S. 259, Anm. 67.

/16/ Carl Hammer in der Rezension von Hans-Werner Goetz, Frauen im frühen Mittelalter. Frauenbilder u. Frauenleben im Frankenreich. Köln, Weimar Wien 1995 in: Histor. Jahrb. 118 (1998),
S. 390.

/17/ So Peter Burschel, Robert W. Scribner zitierend in seiner Rezension von Hansgeorg Molitor u. Heribert Smolinsky (Hg.), Volksfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Münster 1994 in: ZHF 24 (1997), S. 613.

/18/ Siehe Anmerkung 7.

/19/ Kurt Andermann, Rezension von Rainer A. Müller, Der Fürstenhof in der frühen Neuzeit. München 1995 in VSWG 85 (1998), S. 260.

/20/ Robert Jütte, Rezension von: Daniel Roche, La culture des apparence. Une histoire du vetement, In: ZHF 19 (1992), S. 112.

/21/ Ders., ebenda.

/22/ Siehe S. 224.

/23/ So Gerhard Fouquet in seiner Rezension von Peter Schuster, Der gelobte Frieden. Täter, Opfer und Herrschaft im spätmittelalterlichen Kostanz. Konstanz 1995. In: VSWG 84 (1997), S. 113.

/24/ Martin Dinges, Rezension von J. Ceard, M.-M.Fontaine u. J. C. Margolin (Hg.), Le corps a la Renaissance. Paris 1990. In: ZHF 25 (1998), S. 120.

/25/ Robert Jütte, Besprechung von Terence Ranger u. Paul Slack (Hg.), Epidemics and Ideas. Essays on the Historical Perception of Pestilence. In: VSWG 80 (1993), S. 393f.

/26/ Jacob Grimm, Über Schule, Universität, Akademie. In: ders., Aus den kleineren Schriften. Berlin 1911, S. 171–235 (193).

/27 Siehe S. 255.

/28/ So z.B. Claus Conrad, Krieg und Aufsatzunterricht. Eine Untersuchung von Abituraufsätzen vor und während des Ersten Weltkrieges. Frankfurt/M. 1986 (Europäische Hochschulschriften R 1, 856), S. 14 oder Dietrich Hoffmann, Politische Bildung 1890–1933. Ein Beitrag zur Geschichte der pädagogischen Theorie. Hannover, Berlin, Darmstadt 1970, S. 23.

/29/ Bernhard R. Kroener in seiner Einleitung zu ders. u. Ralf Pröve (Hg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Paderborn 1996, S. 3, zit. b. Karl Heinz Ludwig, Rezension in: VSWG 85 (1998), S. 262.

/30/ Zit. b. Ralf Pröwe, Zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft im Spiegel gewaltsamer Rekrutierungen. In: ZHF 22 (1995), S. 197.

/31/ Clemens Wischermann, Rezension von Schildt, Axel u. Sywottek, Arnold (Hg.), Massenwohnung und Eigentum. Wohnungsbau und Wohnen in der Großstadt seit dem Ersten Weltkrieg. Frankfurt, New York 1988. In: VSWG 79 (1992), S. 257.

/32/ Grete Klingenstein, Rezension von : Franz Bosbach (Hg.), Angst und Politik in der europäischen Geschichte. Dettelbach 2000 (Bayreuther Histor. Kolloquien 13). In: Das Historisch-politische Buch 51 (2003), S. 12.

/33/ Dirk van Laak, Alltagsgeschichte. In: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2003 (Aufriß der Historischen Wissenschaften 7), S. 14–80 (70).

/34/ Ders., ebenda, S. 76.

/35/ Alexander Reck, Rezension von Lothar Kolmer und Christian Rohr (Hg.), Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen. Paderborn u.a. 2000. In: Historische Zeitschr. 275 (2002). S. 133.