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SUTER oder das Chamäleon-Prinzip
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2013, Roman, 291 S., ISBN 978-3-86465-033-8, 15,80 EUR LIEFERBAR |
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Inhalt
Der Psychotherapeut Bernfried Suter
ist nun in Rente und stellt sich die Frage, welchen Sinn er seinem neuen
Lebensabschnitt geben kann. Da trifft es sich, dass er – unter
besonderen Umständen – wieder auf die Familie Brendau trifft...
LESEPROBE Ich bin mir sehr unsicher, ob ich nicht besser mit einer Art Entschuldigung beginnen sollte. Denn wenn Sie erfahren, was mich bewegt, dann könnte es leicht passieren, dass Sie mich in eine dieser Schubladen entsorgen, in die ich nicht hinein möchte. Das ist eine meiner Lebenserfahrungen, dass uns alles Ungewöhnliche einerseits sehr anzieht, dass wir aber andererseits zugleich ausreichend Abstand wahren wollen, um der Antwort auf die Frage auszuweichen, weshalb wir selber nicht ebensolche Sachen gemacht, sondern unseren Alltagstrott weitergelebt haben. Und da fängt das an, was ich gerade meinte. Denn ich höre schon einige sagen „Was bildet der Kerl sich denn ein! Wieso maßt der sich an, für uns alle zu sprechen? Der sollte doch erst mal vor seiner eigenen Tür kehren!" Sie haben ja Recht. Oder doch nicht? Egal. Ich denke, es könnte helfen, wenn Sie etwas mehr von mir wissen. Dann können Sie mich gerne in die Schublade stecken, in die ich Ihrer Meinung nach hineingehöre. Aber doch nicht jetzt schon. Obwohl, das gestehe ich, auch ich oft der Versuchung nicht widerstehen konnte, ohne jede Kenntnis und ohne jedes Wissen meine Gegenüber in die Schublade zu stecken, die mir am besten und nützlichsten erschien. Das half mir. Aber das sind andere Geschichten. Ich selber habe das Arbeitsleben hinter mir. Bin also im Ruhestand, doch was heißt das schon? Nur mit und in Ruhe zu leben, ist doch kein Leben mehr. Etwas muss man schließlich tun. Daraus ziehe ich immer Energie. Und schaffe mir einen Sinn, der es mir wert ist, den Tag zu meistern. Ohne solchen Sinn wäre das alles ziemlich sinnlos. Und dann hätte ich nichts mehr von meiner Ruhe. Nicht umsonst kennt das gemeine Volk den Ausdruck Friedhofsruhe. Was mir zunehmend bewusster wird, ist eine Ahnung meiner Endlichkeit. Damit meine ich nun nicht, dass ich sterben muss. Der Tod ist mir vertraut. Fast ein wenig zu vertraut. Vor etwa fünfzehn Jahren starb meine Frau. Einfach so. Ich war sehr glücklich mit ihr. Und eines morgens stand sie nicht mehr auf. Lag im Bett. Tot. Es gab keine Erklärung. Ich habe das überlebt, auch wenn ich heute nicht mehr so genau sagen kann, wie und weshalb. Der Gedanke an den Tod ist seitdem ein mehr oder weniger stiller Begleiter geblieben. Mir fielen dann meine Kinder ein und ich fand, ich hätte also auch meine biologische Funktion erfüllt. Für den Erhalt der Gattung gesorgt. Mit vier Kindern darf ich das sagen. Und dann dachte ich, was das wohl bedeuten könnte. Erwachsen. Gearbeitet. Kinder groß gezogen. Rente. Biologisch war ich, so dachte ich des Öfteren, überfällig. Hatte keine Funktion mehr. Denn auch sozial, in der Gemeinschaft, wurden die Alten wenig geschätzt. Ihr Wissen und ihre Erfahrung waren kaum gefragt. Die Entwicklung war zu schnell. Biologisch konnte ich abtreten. Hatte keine Funktion mehr. Das machte mich manchmal sehr traurig. Meine Zeit schien einfach um. Wenn ich Ihnen verrate, dass ich in einer psychotherapeutischen Gemeinschaftspraxis meine Brötchen verdiente, dann passt das vermutlich ganz gut in die Vorurteilskiste, denn Psychos sind doch Leute, die selber eine Macke haben. Stimmt schon irgendwie. Und dennoch tut es mir gut zu wissen, dass eine solche Macke auch etwas ganz Persönliches ist. Meine Macke gehört mir. Die zeichnet mich aus. So wie Ihre Macke Sie auszeichnet. Aber darüber müssen wir jetzt nicht streiten. Das ist auch so etwas, was mir im Gefolge des Todes meiner Frau und dem Großwerden der Kinder zunehmend bedeutsamer wurde. Ich hatte immer weniger Lust zu streiten. Wollte auch nicht mehr kämpfen. Wollte nur noch leben. Und mich daran erfreuen. Das war einige Jahre lang ein fast zu großes Vorhaben für mich. Jetzt geht es ganz gut. Mir gelingt es immer wieder, irgendeinen Sinn zu finden, der mich weitermachen lässt. Manchmal ist es nur der Genuss der Sinnlosigkeit, an dem ich mich erfreuen kann. Auch so eine Macke. Zurück zur Rente. Der Sprung war ziemlich heftig – von der täglichen Arbeit zur täglichen Selbstorganisation. Ich erfand eine neue Macke. Nach dem Aufstehen und der morgendlichen Routine, zu der eine ausgiebige Körperpflege ebenso gehörte wie ein umfassendes Frühstück mit Zeitung und Musik, blieb ich immer einige Minuten sitzen, um zu überlegen, was ich heute tun würde, um es mir gut gehen zu lassen. Sie werden es nicht glauben, auf welche auch abstrusen Ideen ich da alles gekommen bin. Meine Lieblingsidee, die möchte ich Ihnen allerdings erzählen. Das hängt auch mit meinem früheren Beruf als Psycho zusammen. Ich fand schon immer, dass es eine meiner besonderen Stärken gewesen ist, bei vollständiger Präsenz unsichtbar zu bleiben. Das hat mir den Namen Chamäleon eingetragen. Ich kann es inzwischen genießen, ein Chamäleon zu sein. Im Job war das sehr hilfreich. Ich konnte handeln, ohne dass die Leute das Gefühl hatten, von mir bestimmt, beeinflusst oder unter Druck gesetzt zu werden. Sie hatten immer das Gefühl, dass sie selber die Helden der Geschichte wären. Ja und dann geschah es eines Morgens. Die Nachrichten brachten wieder einmal viele Berichte über Unglücke, Tragödien, Anschläge und Morde. Da dachte ich, dass ich mit meinen Fähigkeiten doch der geborene Ermittler wäre. Unauffällig und doch auf Höhe des Geschehens. Ich musste damals lächeln und mir fielen viele solcher Gestalten ein. Nein, keine wirklichen Menschen, sondern Fernsehhelden. Das wär doch was, dachte ich und überlegte, wie ich in meinem Alltag zu einem solchen Krimiheld werden könnte. Ja – und so fing ich damit einfach an. Nicht gewerbsmäßig – bewahre, denn ich lebe schließlich im Ruhestand. Nein, ganz einfach zu meinem eigenen Vergnügen. Und ein weiteres hielt mich davon ab, dieses Gewerbe offiziell zu praktizieren. Ich war schließlich nicht mehr der Jüngste und Fitteste, und ich wollte auf mich Rücksicht nehmen. Eines hatte ich von Anfang an gelernt, gleichsam als Teil meines früheren Lebens. Ich war mir sehr klar und bewusst, dass das Wort, das ich verwenden würde, die Tat, die geschehen war, erst zu einer solchen – nämlich zu eben dieser – Tat machen würde. Mir fielen als erstes die Geisterfahrer auf der Autobahn ein, die eine ganze Zeit lang durch die Verkehrsnachrichten geisterten. Eben Geisterfahrer. Seit sie offiziell Falschfahrer hießen, waren sie vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden und es gab sie einfach nicht mehr. Das hat meine Empfindsamkeit gegenüber Worten verstärkt. So lese ich dann immer wieder einmal die Zeitungen unter eben diesen Aspekten: welche Tat wird durch das Medium konstruiert, wenn eben die Worte verwendet werden, die ich in der Zeitung lese. Und was würde passieren, wenn ich andere Worte gelesen hätte? Wäre es noch dieselbe Tat? Ich weiß wohl, dass dies eine ganz andere Art von Held hervorbringen würde. Und schon fing mein Gehirn an zu arbeiten. Held? Wieso Held? Und da war ich dann schon mitten drin im Geschehen. Helden waren für mich immer eine Art Übermenschen gewesen – solche, die mich faszinierten und die mich zugleich abstießen, weil ich ahnte, dass ich nie ihre Klasse erreichen würde. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich auch nicht, ob ich das wollte. Denn Helden sind für mich immer irgendwie einsam. Weil sie übermenschlich sind. Ich wollte nicht einsam sein. Heldenhaft – das wäre schon etwas, aber eben menschlich heldenhaft. Nur würde das vermutlich nie jemandem auffallen. Eben zu menschlich und zu wenig heldenhaft. Denn wer kennt schon die Helden des Alltags? Da war sie schon wieder, meine Idee des Chamäleons. Heldenhaft und unauffällig. Ich hatte Lust, das auszuprobieren, mir damit meinen Ruhestand freud- und lustvoller zu machen. Nur über das „wie" hatte ich leider keinerlei Vorstellung. Dennoch war ich zuversichtlich. Der Volksmund sagt doch, der Appetit kommt erst beim Essen. Wieso sollte das bei meinem Vorhaben anders sein? Ich freute mich.
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