Erhard Weinholz

Ortsgespräch oder Erinnerungen an Sandwegsheide

 

Erzählung, 2013, 110 S., ISBN 978-3-86465-032-1, 9,80 EUR

 

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Über das Buch

 

Der alte Spökenkieker Hartwig ahnt Böses, Hanka verführt im Kurzwarenladen den Parteisekretär des Agrobetriebes, Herr Knast-Pelz stürzt sich im Suff zu Tode, und das bescheidene Angebot im Dorfkonsum stellt Ortszeitungs-Redakteur Stefan bei der Rubrik Was essen wir heute? vor arge Probleme. Doch was auch geschieht in Sandwegsheide, der gelernte Historiker und seine Freunde Micha und Wolfgang versuchen mit Witz und Phantasie den Überblick zu behalten. Im Nachbarort fliegen schon Hausbücher ins Maifeuer. Naht die zweite Revolution?

„Die Situation vor dem Untergang des DDR-Schiffs kann vermutlich nicht genauer beschrieben werden, jedenfalls aus dieser Perspektive!"

Fritz Mierau (Berlin)

 

Leseprobe

Die Erde, manchmal auch „unser Land" genannt, ist eine Scheibe. In ihrer Mitte liegt die Landeshauptstadt. Einst war sie Teil der Mark. Doch im Laufe der Jahrhunderte hat sie sich von ihr gelöst und das viel ältere Hellaburg, „Stadt der Brücken, Stadt der Türme, wo die Markgrafen gethront", in die Provinzialität verwiesen. Manch einer behauptet allerdings, insgeheim würden wesentliche Dinge immer noch dort entschieden. „In Hellaburg", sagt der alte Hartwig und schaufelt mit seiner großen, knochigen Linken in der Luft herum, „in Hellaburg wird dat Wetter jemacht." Von wem, will er nicht sagen. Wie dem auch sei, man kommt, läßt man die Landesmitte hinter sich, allmählich in minder bedeutsame Bezirke und zuletzt in menschenleeres Gelände, sandig und unwegsam. An seinem Rande wölbt sich die Himmelskuppel empor. Steckt man den Kopf hindurch – an manchen Stellen soll es möglich sein –, dann sieht man ein oft geflicktes, uraltes Balkenwerk, das ächzend und knarrend den Weg von Sonne, Mond und Sternen bestimmt. Aber so weit geht heutzutage wohl niemand mehr.

 

Ich könnte mich um halb acht ins Bett legen, könnte ein paar Stunden schlafen, bald nach Mitternacht aufstehen und hinüberlaufen zum Bahnhof. Stockfinster ist es, nur hinten an der Friedensstraße sieht man schwaches Licht. In der Otto-Bause-Straße aufpassen, vorsichtig die großen Pfützen umgehen. Irgendwo in den Gärten neben dem neuen HO klagen zwei Katzen. In der Nummer 5, oben im Giebelfenster, ist wieder einmal Licht. Was spielt sich dort ab? Selbst unsere Bürgermeisterin weiß es nicht. Dann noch einmal nach rechts, die schlammige Bahnhofstraße entlang. Wenn jetzt weit vorn am Bahnübergang blechern die Schrankenglocken anschlagen, dürfte ich Herrn Schlütter – ich stelle mir vor, daß er auch diesmal Nachtschicht hat –, nicht stören, müßte warten, bis der Zug vorüber ist. Aber es ist still. Nur die großen Eichen am Bahnhofsvorplatz schütteln ab und an rauschend ihr trocknes Laub. Herr Schlütter sitzt am Ofen und liest. Klopfe ich ans Fenster, setzt er die rote Mütze auf den kahlen Schädel; vor ein paar Wochen, im März, ist er 72 geworden. Nicht etwa eine Dienstvorschrift hat er gelesen, eines der umfänglichen Verzeichnisse der Langsamfahrstellen etwa, sondern den „Almanach für die Mittelmark". Einen älteren Datums, denn vor fünf Jahren ist er letztmals erschienen. Herr Schlütter nimmt die Mütze wieder ab, kocht uns einen Tee und erzählt von alten Zeiten: Als binnen dreier Jahre der Rangierbahnhof und die Neubauten links und rechts der Strecke entstanden, als der Staatspräsident zur Einweihung kam, ganz überraschend, und die Genossen von der Bezirksleitung alles durcheinanderbrachten, als der Betrieb hier schließlich in vollem Gange war und er ein wichtiger Mann. Zwischendurch klingelt das Diensttelefon. „...Ach so, kommt heute nich... gut, weeß ick Bescheid. Is Herbert da? ... Na, is jut." Er legt auf. „Jedenfalls, in‘n Siebzijan war Sandwegsheide der drittgrößte Rangierbahnhof im Lande, der drittgrößte." Den Kampf der Trapo mit den Schwarzbrennern, die Unfälle und Diebstähle, die Schwierigkeiten mit der Planerfüllung, alles hat er in Erinnerung. Aber aufschreiben will er es nicht.

Oder ich laufe am Bahnhof vorbei bis zur Friedensstraße, überquere den Bahnübergang linker Hand, Lichtinsel inmitten der Finsternis, und biege ein Stück dahinter in den Ährenweg ein. Auch bei Wolfgang ist noch Licht. Vielleicht sitzt er am Tisch und zeichnet. Tief beugt er sich über das Papier; manchmal fallen ihm die grauen Locken ins Gesicht. Dann schiebt er sie hinters Ohr zurück. Anne, seine Frau, liegt daneben im Bett, das sie kaum noch verläßt. Sie ist nachts wach, schläft am Tage, schweigt fast immer. Irgend etwas Psychisches, die Ärzte sind ratlos. Vielleicht liest er ihr auch vor, nichts Modernes, Reisebriefe oder Tiergeschichten am besten. Ich könnte ihn ablösen. Später schauen wir eine seiner Sammlungen an: uralte Ausschneidebögen oder Kinderbücher aus den Fünfzigern, Scherenschnitte, Lesezeichen. Neulich hat er mir ein Schreiben aus den frühen Neunzigern gezeigt: seinen Parteiausschluß. Ich hatte gar nicht gewußt, daß er damals Mitglied war. „Anderthalb Jahre. War ein Irrtum." Das Blatt war reich illustriert: ein Metamorphosen-Spiel mit Symbolen von Staat und Partei. „Weißt du was", hatte ich gesagt, „gib doch ne Anzeige auf: Illustriere Ihren Parteiausschluß, auf Wunsch auch farbig. Könnte sich lohnen, letztes Jahr solls hier im Kreis an die dreißig Ausschlüsse gegeben haben. Hab gehört, die werben jetzt auf Teufel komm raus."

Ich könnte mich aber auch für morgens halb acht mit Micha verabreden, er wohnt ja gleich um die Ecke, und ihn zum Frühstück einladen. Aufräumen müßte ich dafür nicht. Ein ungemachtes Bett, herumliegende Wäsche, Geschirr vom Vortag auf dem Tisch, all das sind Zeichen der Freundschaft. Wir setzen uns aufs Sofa, reden über das Neueste aus der Mittelmark oder über unser Leben und tun so, als hätten wir alle Zeit der Welt.

Aber ich nutze meine Freiheiten kaum. Ich bin um zehn ins Bett gegangen, um sieben aufgestanden und sitze nun am Tisch. Übermorgen muß die nächste Nummer des
„Signal" fertig sein, diesmal bin ich allein verantwortlich; Lüttke war froh, als er den Posten vom Halse hatte. Zwei Rubriken machen mir Sorgen: der Hauptbeitrag auf Seite 1 und „Was essen wir heute?" hinten auf Seite 4, Menüvorschläge für drei Wochen. Lüttke hatte das seiner Frau überlassen; als sie tot war, hat er einfach aus „Wir kochen gut" abgeschrieben. Das wäre mir zu billig. Wie gehe ich an die Sache heran: realistisch oder eher subversiv? „Hirschsteaks mit Burgundersauce: ein Kilo Hirschfleisch aus der Keule, Champignons, ein halber Liter Sauce, zwei bis drei Eßlöffel Madeira...". Madeira – ist das ein Süßwein? Müßte ich mal im Lexikon nachschlagen. Na gut. Also: Montag: Mohrrübeneintopf mit Schweinekamm. Dienstag: Kartoffeln, verlorene Eier in Kapernsauce... hat der Konsum eigentlich Kapern? Notfalls in Senfsauce, Mostrich gibt’s immer. Mittwoch: Makkaroniauflauf mit... mit Mischgemüse? Das Mischgemüse aus dem Glas schmeckt scheußlich. Hol’s der Teufel.

Beim letzten Treffen hatte ich Lüttke noch gefragt, ob ich das alles dem Herausgeber vorlegen müsse. „Ortsausschuß der Nationalen Front?" Er hatte mit der Linken kurz abgewinkt.

„Ach so: Vom Winde verweht..."

„Na ja, Wind hats keinen gegeben. Irgendwie isser verschwunden. Vielleicht gibt’s ihn auch noch. Wat weeß man schon."

Heute mittag lag ein Brief im Kasten. Vorn, links unten, ein Stempel:

Kreismuseum Hellaburg-Land/ Mittelmärkisches Heimatmuseum

1561 Glienow Klostermarkt 6 Tel. 4257.

Rechts oben, ungestempelt, eine alte Sondermarke: Auch im Museum macht man Funde. Der Umschlag aus vergilbtem Zeichenkarton sieht aus wie selbstgefertigt, zusammengeklebt ist er nur hinten in der Mitte. Ein Bogen A4 liegt darin, eine bessere Art Klopapier, ormigblau bedruckt:

Liebe Kollegin, lieber Kollege........

der 1. Mai, der Kampftag der Werktätigen unserer Republik...

...Kampftag? Wieso Kampftag?...

gibt uns Anlaß, Sie für den 27. April, 18 Uhr, zu einer Festveranstaltung mit anschließendem geselligen Beisammensein in unser Kreismuseum einzuladen.

...Ich dachte, die sind froh, mich los zu sein, nach dem ganzen Zeck mit der Kreisleitung...

Gezeigt werden die Exponate unserer neuen Sonderausstellung „Der 1. Mai in der Mittelmark: Fotos – Dokumente – Erinnerungen" und Ergebnisse der Grabungen in Kreßdorf.

Wir bitten Sie, Geschirr mitzubringen (Tasse und Teller).

Mit sozialistischem Gruß,

Orwaldt (Direktor)

 

Darunter mit Bleistift in Schulmädchenschrift:

Lieber Herr Dr. Sundewitt, lassen Sie uns nicht im Stich, sonst sitzen wir alleine da. Kati Bauer (ehrenamtl. Helferin) wird für uns kochen. Unser alter Chef (Dr. Pittlar) hat schon zugesagt. Sie haben es ja nun gut, am liebsten würde ich auch in Vorruhestand gehen, es ist nichts mehr los hier und ein Elend: Kein Etat und Material. Aber das eine Jahr muß ich noch durchhalten.

Viele Grüße, Ihre Hannelore Berkhaus.

Ach Hannelore, Hannelore mit dem stets besorgten Gesicht und dem einst so strammen Hintern, den ich einmal blank gesehen habe: Nach der Maifeier vor, ja, wann war das? Vor vierzehn Jahren, als sie mit tief ausgeschnittenem Kleid gekommen war. Nur aus Spaß, hatte sie hinterher gesagt, und am nächsten Montag haben wir so getan, als sei nichts passiert. Ich lege den Umschlag in einen tiefen Teller und gieße etwas Wasser auf die Marke: „50 Jahre Befreiung vom Faschismus", über zerbrochener Kette steht ein roter Stern.

 

Frau Schubert ist gestorben. Ich habe es gleich morgens im Konsum gehört, als ich an der Kasse anstand.

„Betty Schubert, meine Güüte", sagt die dicke, junge Kassiererin, während ihre Finger unentwegt über die Tasten hüpfen, „die war doch gerade erst siehmunsechzig... Macht denn zwölf dreiundachtzig. Marken?"

Hatte sich mittags hingelegt, die Betty, während Horst in der Küche herumwerkelte, und als er gegen halb drei nach ihr schaute, war sie schon tot. Nun weiß ich also, weshalb die träge Verwalterin zerschlissener Buchbestände gestern nicht erschienen ist; der vierte Todesfall dieses Jahr in unserer nicht eben großen Gemeinde.

Von den Konsum-Linden tropft es sacht auf mich herab. Während ich überlege, ob ich zur Post gehe oder erst wieder nach Hause, sehe ich unsere Bürgermeisterin die Straße entlangkommen. Zielstrebigen Schrittes, also dienstlich unterwegs.

„Morgen, Stefan", sagt sie mit einer Stimme, als sei auch ich einer der Leidtragenden, „du hast ja wohl schon gehört..." Ob ich zur Trauerfeier gehe, will sie wissen. Hängt vom Wetter ab. Denn beerdigt wird in Altehütten, Sandwegsheide hat keinen Friedhof, eine Kirche sowieso nicht. „Weil wir jung sind, ist die Welt so schön", hat man damals gesungen, als der Ort erbaut wurde. „Wäre auch nicht schlecht, wenn im ‚Signal‘ ein Nachruf kommt." Denn 37 Jahre, so höre ich, hat Frau Schubert die Gemeindebibliothek betreut, sei früher sehr rührig gewesen – was mir nie aufgefallen ist –, aber mit der Zeit, wie es eben so ist... „Apropos Gemeindebibliothek", sie lächelt mich an.

„Ist gut", sage ich, „ich setz mich nächsten Donnerstag, fünfzehn bis achtzehn Uhr?", sie nickt, „in den MAS-Bau." Wir sagen noch immer „MAS-Bau", obwohl man die Maschinen-Ausleih-Stationen längst aufgelöst hat. Wir sagen auch noch „neuer HO", dabei ist der kleine Industriewarenladen zum 20. Jahrestag der Republik eröffnet worden. Mancher sagt sogar noch „Interzonenzug", obwohl es diese Zonen schon seit Jahrzehnten nicht mehr gibt.

 

Halb neun", sagt Micha, „gute Zeit, nicht zu früh, nicht zu spät, unser neuer Mittwochsstammtisch." Er versetzt dem Gestell des wackligen Polsterstuhls, der in der Ecke am Fenster steht, ein paar Schläge mit dem Handballen. „So, vielleicht hält er noch ne Weile."

„Ja, das hofft man von so manchem. Möchte mal wissen, weshalb die den Krug zugemacht haben."

„Spontan fällt mir ein: Weil sie doof sind. Aber, Stefan, unsere Bürgermeisterin ist ja nicht doof, das ist ne kluge Frau. Ich könnte jetzt einen Leserbrief ans ‚Signal‘ schreiben: Waarum... Aber gehen wir einfach mal davon aus: Es ist so."

Ich habe mich auf einen der farbbekleckerten Stahlrohrstühle gesetzt, neben den Heizkörper, den Arm ins Waschbecken gehängt. „Bleibt eben ne kleine Runde", sage ich, „drei Stühle, drei Leute. Wer sonst noch kommt, kann sich ja auf die Liegen setzen."

„Weißt du, was das mal war hier?"

„Könnte der Frauenruheraum gewesen sein, waren ja immer sone Rumpelkammern." In den Rohren der Zentralheizung rauscht und knackt es.

„Und was ist in den Schränken? Schon mal reingeschaut?"

Nur in den einen – Relikte aus Sandwegsheides größter Zeit: eine Mandoline ohne Saiten, Noten, zwei abgewetzte MAS-Ausweise, ein leicht lädiertes Staatsemblem aus farbig kaschierter Pappe, Eichenlaubkranz, Sichel, Zirkel und ein Hammer ohne Kopf, muffiger roter Fahnenstoff, eine Tüte mit goldbronzierten Pappbuchstaben.

„Ergeben vielleicht die Losung: Wie wir heute arbeiten Komma wird morgen unser Leben sein Ausrufungszeichen", meint Micha.

„Genau, war ein Test für Wandzeitungsredakteure. Wer es nicht schaffte, ging ab nach Beilstein."

„Ich sehe wieder mal, Stefan, du kennst dich aus in der Geschichte. Und hast auch einen Kasten Bier angeschleppt. Ich tippe mal auf Mönchspisse."

Ja, leider. Seit einigen Wochen gibt es bei uns nicht mehr das Hellaburger Bier, sondern Dasselower Klosterbräu. Ein feister Mönch ist auf dem Etikett zu sehen, der lächelnd einen Humpen stemmt. Aber die Sorte ist mies, schmeckt mal nach Kork, mal nach Gummi, meist aber nach gar nichts.

Die erste Flasche in der Hand, durchmustern wir den Inhalt des anderen Schranks: ein Schachspiel, dem, höchst symbolisch, meint Micha, einige Bauern fehlen, eine alte Staatsverfassung mit vielen Unterstreichungen – „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes" – , ein angeschlagener Kristallaschenbecher voller Reißzwecken, eine große Flasche Stempelfarbe und vier Schaufensterfotos A3. Auf einem ist hinten mit Bleistift vermerkt: „Schaufensterwettbewerb zu Ehren des 10. Jahrestages der Staatlichen Handelsorganisation (HO)". Immer sind die beiden Buchstaben im Kranz aus glänzendem Lorbeer zu sehen, mal von Stoffbahnen umschwebt, mal von Konservendosen umstellt.

„Mensch, toll", sagt Micha, „die nehm ich für Auslagen als Dekomaterial."

Es klopft ans Fenster. Wolfgang, der später kommen wollte? Es ist der alte Hartwig.

„Nahmd, Paul." Obwohl Micha die Hütte in der Mühlenstraße erst letztes Jahr gepachtet hat, ist er mit den meisten hier per Du.

Der alte Hartwig wiegt den Kopf hin und her. Wir warten: Es ist seine Art, ins Gespräch zu kommen. „Da sinn heute Blasen jewesen", flüstert er schließlich, „die janze Zeit, uffn Pumpenfuhl, da beit Spritzenhaus."

Ja, und?

„Dis is", er flüstert eindringlicher, „dis is der Wassamann."

„Also, Paul, es gibt ja so mancherlei. Aber glaubst du wirklich, daß ein richtiger, echter Wassermann in so nem Fünfziger-Jahre-Tümpel..."

„Ne, laß mal", unterbreche ich Micha, „der ist älter. Den gibt’s schon auf ner Flurkarte von 1762."

Hartwigs heisere Flüsterstimme: „Der is noch älter. Wir sind ja ansässig hier uffm Vorwerk, war doch allet n Vorwerk hier, seit Vierzehnhundert inne Achtzijer."

„Na, da können wir nich mithalten. Willste n Bier, Paul? Stefan, wann seid ihr hergezogen?"

„Einundsechzig, Sommer einundsechzig haben wir das Haus jekricht hier in der Einheitsstraße."

Der alte Hartwig trinkt die Flasche in einem Zug aus, rülpst ein paar Mal und wischt sich den Mund mit dem Handrücken.

„Und, Paul, wie sieht er aus, der Wassermann?"

„Der zeigt sich nich so. Mein Vata hat ihn mal jesehn, und der olle, na wie heißta, der olle Grapentin. Det war aba nachts. Da soll man nich hinkieken."

„Stimmt", sage ich, „wenn irgendwas is, nich hinkieken, Arschbacken zusammenkneifen, weitergehen. Und was is nu mit den Blasen?"

„Da passiert n Unjlück. Immer, wenn die Blasn komm. Damals, Kuttkes Bulle, uff da Weide vom Blitz erschlaren, sonn Bulle..." Er reicht die leere Flasche herein und schlurft steifbeinig davon.

Der Wind treibt altes Laub in den Raum. Das Neonlicht flackert. Micha schließt das Fenster.

„Das sind die Frühlingsstürme", sage ich.

„Jaa, Stefan, die Frühlingsstürme. Sie bringen eine neue Zeit. Eine Zeit ohne Krieg und Not...."

„...ohne Ausbeutung und Unterdrückung..."

„...ohne Ausziehtusche und Aquarellpapier..." Das ist Wolfgang. Er stellt eine Rotweinflasche aufs Fensterbrett.

„Aber Wolfgang, warum sagste nichts? Du weißt doch, daß ich, Schaufenster dekorierend, viel herumkomme in unserer schönen Mittelmark, sogar in Stefans alte Heimatstadt komme, die leider nicht mehr so schön ist, jedenfalls, es gibt Ausziehtusche, vielleicht sogar Aquarellpapier." Micha zieht einen Zettel aus der Brusttasche.

Später mühen wir uns, aus den Pappbuchstaben, sogar ein X ist dabei, Sätze zu bilden. „Anscheinend die übriggebliebenen", vermute ich. Noch einmal klopft es ans Fenster. Wir reagieren nicht.

„Einmal pro Abend reicht", sagt Micha.

...

 

 

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