Clara Landgraf
 


Leben von Tod zu Tod
 

 

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Autobiografische Erzählung, trafo Literaturverlag 2013, 208 S., ISBN 978-3-86465-023-9, 16,80 EUR

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Klappentext

Die alte Frau sitzt vor dem leeren Blatt. Sie muss herausfinden: das Maß ihrer Schuld, der vollen Verantwortlichkeit. Ein Urteil fällen, das zur gerechten Strafe führt – wählen zwischen der Todesstrafe, zu vollstrecken sofort, oder dem Schuldspruch Lebenslänglich ...

Womit beginnen? Mit welcher der Scherben, die ihr Leben ausmachen? Alle ihre Erinnerungen gruppieren sich um das eine Geschehen, das die lebensbedrohlichen Verletzungen verursacht hat: den Suizid ihrer beiden erwachsenen Söhne.

Schritt für Schritt wird sie auf die unerträgliche Wahrheit zugehen, einsteigen zunächst in Unverfängliches, in die Zeit, als sie noch ein kleines Mädchen war, ein unschuldiges Kind. Und dann den Weg aufspüren, auf dem sie ganz allmählich, unmerklich beinahe, zur Schuldigen geworden war …

 

Leseprobe

Sich stellen.

Sie muss sich stellen – dem Vergangenen, dem Unauslöschlichen, den Schmerzen und den Kränkungen, den erlittenen und denen, die sie anderen zugefügt hat, den Kindern, ach vor allem den Kindern. Wie ein Verbrecher sich stellt, nach der Tat, nach den Taten, irgendwann, wenn es ausweglos geworden ist, wenn er in die Enge getrieben ist von den Verfolgern oder den eigenen Ängsten und dem schlaflosen Gewissen bei Nacht. Kein Weg mehr nach außen, wenn nicht dieser. In Bedrängnis sein, dass man kaum noch atmen kann, dass es die Luft nimmt, die Brust zuschnürt und den Hals.

Oder: Einen Standpunkt finden, einen Punkt also, auf dem man stehen kann, stehen darf, Halt hat; einen Punkt erreichen, von dem aus man sehen kann. Wieder. Oder erst jetzt.

Ein Hoffnungsschimmer vielleicht auch: irgendwann einmal sich hinstellen, stehen können, aufrecht stehen und gehen können, in die Einheit mit sich selbst. Trotz alledem.

 

Die Frau träumt: einen Traum vom Fliehen.

In einer offenen Landschaft mit vielen Menschen zunächst, Unbekannten, doch nicht Unvertrauten, sieht sie den einen, der sie verfolgt. Groß, breit, schwarz, unkenntlich, stumm, ohne Eile, doch bedrohlich, ängstigend, das Böse an sich. Lebensgefahr.

Sie flieht. Flieht atemlos, der Fluchtweg ist eine Lehm- oder Schotterstraße, die bergan führt, links und rechts ins Leere hinunterbrechend, kurvenreich, teils serpentinenartig, immer bergan, immer dunkler werdend, menschenleer. Sie hastet den Berg hinauf, der Verfolger naht, die Straße führt ins Leere oder in die Hölle oder sonst wohin, zu beiden Seiten Abgründe, immer tiefer werdend, mit ansteigendem Weg immer gefährlicher; sie atmet schwer, das Blut droht ihr aus den Schläfen zu springen, sie wird die Verfolgungsjagd verlieren, sie wird sich verlieren, sie weiß es. Er, es wird sie erreichen, es wird ihr Tod sein.

Blitzartig die Erkenntnis – Rettung ist möglich. Sie darf vor der Gefahr nicht weglaufen; wenn sie ihr entgegenginge stattdessen, erreicht sie – vielleicht – die Anfänge der Straße, die Teile, wo die Hänge noch nicht so todessteil sind, wo man noch hinunterspringen könnte, wo man die Ebene mit den Menschen schon hören, vielleicht gar sehen kann, wo man entkommen kann in das Menschenreich zurück. Es ist eine Chance, es ist kreuzgefährlich, denn man muss dem schwarzen Mann entgegenlaufen, auch er steht nicht still, er bewegt sich stetig und nur scheinbar ruhig auf sie zu, sie muss so schnell sein, dass eine Entfernung zwischen ihnen bleibt, obwohl sie einander entgegengehen, sie muss riskieren, noch mehr in seine Nähe zu kommen, sie muss es wagen, ihn zu erkennen, sie muss es tun, sie muss umkehren, auf die Bedrohung zugehen, ihr ins Auge sehen und dann abspringen, auch wenn sie tief fällt, auch wenn sie sich verletzt.

Es ist eine Chance.

Es könnte die Rettung sein.

Sich umwenden. Gedanken zulassen.

Gedanken wie ein gläserner Becher – schön, durchsichtig, klar. Sie will ihn halten, festhalten, behalten. Das Gefäß ist zu leicht, es entzieht sich der gewohnten Kontrolle. Festigkeit von Griff und Glas sind nicht messbar, nicht wägbar. Es bricht in der Hand, splittert im Kopf. Ein Berg von Scherben. Große, kleine, winzige. Abgerundete darunter, erst unter der Berührung scharfkantig und verletzend, schneidend, brennend. Spiegelnd, verwirrend. Dunkle, helle. Glasklare, milchige, undurchsichtige, verschmutzte, blutige Scherben. Sie fassen wollen, ordnen, ihren Sinn erkennen, suchen, finden, was zusammenpasst.

Ein gläsernes Mosaik vielleicht schaffen, ein Kaleidoskop wenigstens, wie man es als Kind bestaunte, als man noch nicht wissen konnte, dass die bunten ungeahnt zauberhaften Erscheinungen nur der geschickten Spiegelung von kleinsten Teilchen, Abfällen gar, und deren Widerschein im kindlichen Auge zu danken waren.

Die alte Frau sitzt vor dem leeren Blatt. Sie muss herausfinden: das Maß der Schuld, der vollen Verantwortlichkeit. Vielleicht, so hofft sie, den einen oder anderen mildernden Umstand finden oder gar Mitschuldige? Ein Urteil fällen, das zur gerechten Strafe führt – wählen zwischen der Todesstrafe, zu vollstrecken sofort, oder dem Schuldspruch Lebenslänglich ...

Womit beginnen? Mit welcher der Scherben, die ihr Leben ausmachen? Alle die kleinen Splitter gruppieren sich um den einen zentralen, den schwärzesten, der die unertragbaren Schmerzen auslöst, der die lebensbedrohlichen Verletzungen verursacht hat, Verletzungen, immer noch blutend nach über zwanzig Jahren, nie heilend bis zum Schluss: das Ende ihrer beiden erwachsenen Kinder.

Unmöglich, damit anzufangen, die wahnsinnige Wahrheit unvermittelt aufzuschreiben, der Schmerz nähme schon zu Beginn alle Kraft. Langsam auf den schwarzen Krater zugehen, Schritt für Schritt, einsteigen zunächst in Unverfängliches, wo es noch keine eigene Schuld gab, in die Zeit vielleicht, als die Frau noch ein kleines Mädchen in einer farbigen Welt war – wie man so sagt, ein unschuldiges Kind. Und dann den Weg aufspüren, auf dem sie ganz allmählich, unmerklich beinahe, zur Schuldigen geworden war.

Scherbengleiche Erinnerungen. Werden sie ein Bild ergeben?

Erinnerungen kommen nicht. Erinnerungen sind. Sie begleiten uns des Tags und des Nachts. Sie sind stark und unübersehbar für uns, wenn wir so gehen irgendwohin oder nirgendwohin.

Sie halten sich verborgen, warten, lauern wie Straßenräuber auf ihre Stunde. Sie flüstern uns unhörbar zu: Wir sind da, und sie brechen laut aus dem Versteck hervor.

Sie verwandeln sich. Sie täuschen uns.

Manchmal geben sie sich die Gestalt verlässlicher starker Baumwurzeln, verströmen erdwarmen Geruch und lassen uns bei sich zu Hause sein. Manchmal schlagen sie mit Hagelkörnern auf uns ein, wenn wir schutzlos auf freiem Feld umherirren.

Manchmal sind sie wie wärmender Trank, und erst, wenn die Schmerzen uns zu zerreißen beginnen, erkennen wir das tödliche Gift.

Wir versuchen sie festzuhalten, wenn sie uns gut tun; wir wollen sie wegdrängen, wenn sie uns quälen. Sie fliehen und sie bleiben. Sie locken und sie drohen. Sie trösten und verfluchen.

Sie gehören uns nicht, sie gehören sich selbst. Wir haben keine Macht über sie. Wir haben keine Macht über uns. Sie sind wir. Wir sind sie.

 

Was könnte entlasten? Eine unglückliche Kindheit?

Aber sie hatte wohl keine unglückliche Kindheit gehabt. Immer wieder hat man es ihr gesagt: Sie hatte eine schöne Kindheit trotz Krieg und Hunger.

Den Hunger am Ende des Krieges und nach dem Krieg erlebt das Kind ganz bewusst – und dennoch als das Normale. Es bittet nicht um eine Scheibe Brot, sondern fragt: Eine Schnitte kann ich wohl nicht mehr haben? Auch die Tatsache, dass man prinzipiell alles aufisst, nichts übrig lässt oder gar ablehnt, ist nicht den erzieherischen Prinzipien der Mutter geschuldet, sondern dem ständig wühlenden Hungergefühl. Nur einmal – erinnert sich die Frau – wurde Essen weggeschüttet, da sollte es gekochtes Trockengemüse geben, wer weiß, wo ergattert, und das blieb auch nach stundenlangem Kochen strohähnlich, war nicht kaubar, nicht essbar, für niemanden.

Dass da Krieg ist, ist für das kleine Mädchen eine Selbstverständlichkeit. Er bringt schon manchmal Ungewöhnliches, Überraschendes, ist aber im wesentlichen geprägt von Alltäglichem: dem nächtlichen, später täglichen Sirenengeheul, dem Aus-dem-Schlaf-gerissen-Werden, von der Eile, wenn man sich in den kleinen Bunker zu retten versucht (... sonst fallen die Bomben auf uns ...), das Kind meist im schon viel zu engen alten Kinderwagen sitzend, den wichtigen schwarz-gelben Koffer mit den Papieren fest umklammernd. Auf dem Weg zwischen Bunker und Wohnung die hübschen Weihnachtsbäume am Himmel.

Im Bunker – rohe Betonwände, bis heute für die Frau abstoßend und Angst einflößend. Mutter, Großmutter und das Mädchen fast immer in der linken hinteren Ecke des anscheinend riesigen, grauen, kaum erleuchteten Raumes sitzend – einmal aber doch einen Platz in einer sogenannten Kabine erhaschend, die nicht minder beängstigend ist mit ihrer düsteren schlecht belüfteten Beengtheit. Das Wort Entwarnung; Heimweg, Kondensstreifen am Boden, davon konnte man vielleicht am nächsten Tag noch etwas finden.

Nach den Fliegerangriffen (jetzt weiß die Frau, warum sie das Wort Flieger nicht mag und lieber Flugzeug sagt) die Wohnung anfangs unversehrt.

Dann eine Brandbombe. Als die Familie aus dem Bunker zurückkehrt, hat der im Hause verbliebene Besitzer schon gelöscht, vergleichsweise wenig Schaden, aber für das Mädchen erschreckend – die schwarzgebrannte Front des Wohnzimmerschrankes, der seitdem nur noch – auch nach einer provisorischen Reparatur – der verbrannte Schrank genannt werden wird.

Noch Dramatischeres gegen Kriegsende: Der schöne Garten mit Wiese, Obstbäumen, kleinen Winkeln zum Verstecken, den das Kind nutzen darf, als sei es sein eigener, nicht mehr betretbar, von Schützengräben durchzogen. Und die Wohnung im wahrsten Sinne des Wortes belegt. Auf dem Fußboden schlafende junge Männer, alle in derselben Kleidung (Kannte das Kind das Wort Uniform schon?), so müde, so schmutzig (oder auch: beschmutzt) von der Verteidigung der Berliner Stadtgrenze im April 1945. Nachdem die SS-Leute sich noch schlaftrunken wieder aufgemacht haben, spricht die Mutter von halben Kindern, in diesem Moment fast mehr bedauert als gefürchtet ...

Und einen Monat später die Wohnung völlig verwüstet. Der Fußboden bedeckt mit herausgerissenen, zerstörten Dingen des Hausrats, Wäsche, Kleidung. Völlig verschmutzt der Fußbodenbelag aus Kokosläufern, Exkremente, auch in dem schönen braunen Velourhut der Mutter. Zwischen allem die Puppe des Kindes, fast unkenntlich durch einen Stiefeltritt. Das Wort die Russen steht im Raum. Die Mutter hat so viel Größe, der Tochter zu sagen, dass es in jedem Land, in jedem Volk gute und schlechte Menschen gibt. Nicht alle Deutschen sind gut, nicht alle Russen sind böse.

Immer öfter ist von den Erwachsenen zu hören, jemand sei tot. Das heißt wohl – der da tot ist, ist nicht mehr da. Walter, der zwanzigjährige Sohn des Hauswirts, ist nicht mehr da. Tot. Erschossen im Mai 1945 auf dem eigenen Grundstück, vor den Augen des Vaters. Keine Möglichkeit für Trauerfeier und Beerdigung, es wird gekämpft in Berlin, man kommt nicht durch zum Friedhof. Ein Erdhügel also im Garten, dort, wo die Vierjährige zu spielen gewohnt ist. Man sagt ihr, das sei ein Grab und der Walter ist tot (weil doch Krieg ist) und liegt jetzt dort begraben, in dem Hügel ist er drin. Die Eltern des toten jungen Mannes schmücken die Stelle mit Blumen. Das versteht das Kind: Blumen für jemanden, den man lieb hat, und es pflückt die schönsten Gänseblümchen von der Wiese und legt sie dazu. Später dann die Beisetzung auf dem Friedhof, der Trauerzug, die Mutter hat für das Kind einen ganz kleinen Blütenkranz binden lassen, die Kleine trägt ihn in ihren Händen – ein bisschen stolz: Das ist ihr Kranz, den bringt sie zum Friedhof, weil doch der Walter jetzt tot ist.

Erst als die Frau schon alt ist, doppelt so alt wie ihre Mutter damals, dringt aus Erinnerungsresten, aus Gehörtem, Gelesenem die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, was auch der Mutter, der damals 35-jährigen Frau, geschehen sein muss im April/Mai 1945, in Berlin-M., beim Einmarsch der Russen in die Reichshauptstadt. Das Gesicht des sowjetischen Offiziers mit der hohen Pelzmütze taucht wieder auf, schattenhaft auch das Bild seines Begleiters, die beide wohl täglich in der elterlichen Wohnung erschienen, mit der Mutter radebrechten, manchmal ging auch einer von ihnen weg, brachte bei der Rückkehr dem Kind etwas Süßes mit. Ob es immer derselbe Offizier war, der da mit in der Küche saß, entzieht sich dem unscharfen Rückblick. Harmlose Szenen für das Kind, erst im Laufe von Jahrzehnten allmählich immer unsicherer, immer skeptischer, mit immer wachsenden Ängsten gedeutet. Nun erst versteht sie die späte Erzählung der Mutter über die Absicht, nein, das Vorhaben, sich gemeinsam mit der eigenen Mutter und dem vierjährigen Mädchen das Leben zu nehmen, im nahe gelegenen See, aus Entsetzen über die einst doch eigentlich herbeigewünschten und dann so barbarisch wütenden Befreier – ein Plan, unter Tränen und Schmerzen aufgegeben angesichts der Hoffnung, der geliebte Mann, der Vater des Kindes könne doch noch heimkehren aus dem Krieg nach Jahren. Sollte er dann seine Familie ausgelöscht finden?

In die Trauer der alten Frau mischt sich die Scham, mit den Erzählungen der Mutter zu ihren Lebzeiten so oberflächlich umgegangen zu sein, nicht nachgefragt zu haben, nicht verstanden zu haben. Wie hoch erst heute die Achtung vor der Haltung der Mutter, vor der menschlichen Größe, die sie aufgebracht haben muss, um das ohnehin labile Gleichgewicht des Kindes nicht zu gefährden, Gefühle des Hasses von ihm fernzuhalten.

Einen Menschen gibt es noch, der es wissen kann, was damals wirklich geschah: eine alte Freundin der Mutter. Man könnte sie fragen. Aber die Frau respektiert, dass die Mutter mit ihr, der Tochter, darüber nicht gesprochen hat, dass sie geschwiegen hat, aus Scham oder um die Jüngere zu schonen, dass sie das Erlebte – im wahrsten Sinne des Wortes – mit ins Grab genommen hat.

...

 

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