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Baugatz, Christian-Ulrich

 

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis." GOETHE AKTUELL – Ein Essay

 

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2012, 68 S., mit Illustrationen des Autors, ISBN 978-3-86465-009-3, 13,80 EUR

 


Klappentext

„Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.“
Diesen wegweisenden Satz sprach Goethe zu Eckermann am 16. Dezember 1828.
Deutsche Bildung und Kultur sind ohne die Besinnung auf Goethe nicht denkbar. Bildung ist das, was man sich in einem lebenslangen Vorgang selbst erarbeitet. Bildung ist Wissen und Einstellung, Tat und Charakter. Es sei die These gewagt, daß die Zeit erst kommen wird, in der Goethes Werk in seiner ganzen Vielfalt von der Breite unseres Volkes aufgenommen werden wird. Er war und ist bisher der große Einsiedler.
Diese kleine Schrift, die zum 180. Todestag des Dichters erscheint, bietet einen Zugang zur Persönlichkeit des Künstlers und Polyhistors. Vier Verhaltensweisen werden beschrieben.
Goethe, der Schiffbrüchige, der Augenmensch, der Naturverehrer und der Alchemist.
Der Versuch, Lebenshaltungen zu verstehen, wirft auch ein neues Licht auf seine Werke, namentlich die Faustdichtung. Werk und Persönlichkeit sind bei allen mächtigen Geistern und großen Seelen nicht zu trennen. Wer sich dieser Persönlichkeit nähert, wird von seiner zeitlosen Lebendigkeit überrascht sein und angesteckt werden.

 

Leseprobe

Teil I
Der Schiffbrüchige

„Das Leben ist seinem Wesen nach ein ständiger Schiffbruch. Aber schiffbrüchig sein heißt nicht ertrinken.
Der arme Sterbliche, über dem die Wellen zusammenschlagen, rudert mit den Armen, um sich oben zu halten.
Diese Reaktion auf die Gefahr seines eigenen Untergangs, diese Bewegung der Arme ist die Kultur – eine Schwimmbewegung. Solange die Kultur nichts ist als dies, erfüllt sie ihren Sinn, und der Mensch steigt auf über seinem eigenen Abgrund.
Aber zehn Jahrhunderte kontinuierlicher Kulturarbeit haben neben nicht geringen Vorteilen die große Unzuträglichkeit mit sich gebracht, daß der Mensch sich in Sicherheit glaubt… und seine Kultur mit überflüssigem Wucherwerk belastet.
Darum muß irgendeine Unstetigkeit eintreten, welche in dem Menschen das Gefühl des Verlorenseins, die Substanz seines Lebens, erneuert. Es ist nötig, daß alle Rettungsringe um ihn her versagen, daß er nichts findet, woran er sich klammern kann.
Dann werden seine Arme sich wieder rettend regen.
Das Gefühl des Schiffbruchs, da es die Wahrheit des Lebens ist, bedeutet schon die Rettung. Darum glaube ich einzig an die Gedanken Scheiternder. Man sollte die Klassiker vor ein Tribunal von Schiffbrüchigen stellen und sie gewisse Urfragen des echten Lebens beantworten lassen.“
Diese Sätze schrieb der spanische Philosoph José Ortega
y Gasset 1932 (Um einen Goethe von Innen bittend, Gesammelte Werke, Augsburg 1996, Band III, S. 269 f.) als er von einem Freund gebeten wurde, einige Gedanken anläßlich des hundertsten Todestages von Goethes zu Papier zu bringen.
Sind diese Sätze nicht hochaktuell? Leben wir nicht in einer Gesellschaft, die das Grollen im Untergrund bewußt überhört und der Meinung ist, daß über lange Zeit alles so weiterlaufen wird wie bisher, daß das Leben sich planen läßt und daß alles Unplanmäßige durch entsprechende Versicherungen wieder ins Lot gebracht werden kann?
„Das Leben“, sagt Ortega, „ist die Antwort des Menschen auf die radikale Unsicherheit, aus welcher es seinem Wesen nach besteht. Darum ist es höchst bedenklich für einen Menschen, wenn ihn ein Übermaß an scheinbarer Sicherheit umgibt. Das Bewußtsein des Geborgenseins tötet das Leben.“ (Ebd., S. 288)
Goethe lebte in scheinbarer Sicherheit in Weimar. Er gehörte zu den sechs Großverdienern des Fürstentums. (Vgl. Ulrich Küntzel, Die Geschäfte des Herrn Goethe, Hannover 1997, S. 17)
Das mindeste Jahresgehalt, mit dem man damals auskommen konnte, betrug 70 Thaler – Goethe verdiente seit der Jahrhundertwende (1800) 3100 Thaler, dazu kamen sein ererbtes Vermögen und seine Einkünfte aus Buchveröffentlichungen. Aber machen wir es uns nicht zu einfach: Der Mensch ist längst nicht nur durch seine äußeren Verhältnisse beschrieben, sondern unabdingbar auch durch seine inneren Spannungen. Ebenso wenig wie unsere heutigen Wirtschaftskrisen als Probleme des Managements erklärbar sind, sondern nur als geistige Krisen, läßt sich ein Mensch äußerlich beschreiben. Er läßt sich nur beschreiben, wenn man den Widerstreit in seinem Innern kennt, zwischen dem, was er ist und dem, was er sein soll. „Jedes Leben ist mehr oder weniger eine Ruine, unter deren Trümmern wir die eigentliche Bestimmung des Menschen entdecken müssen,“ schreibt Ortega Y Gasset in dem bereits erwähnten Aufsatz. (A. a. O. S. 275) „Das Fesselndste ist nicht der Kampf des Menschen mit der Welt, mit seinem äußeren Schicksal, sondern sein Kampf mit seiner Berufung.“(ebenda)
Verlassen wir den spanischen Philosophen und wenden uns geschärften Blickes dem Genie zu, dem unsere Betrachtung gilt.
Nun sind wir vielleicht hellhörig geworden und lesen manche Stellen bei Goethe schon anders und manche Gestalten in seinem Werk machen uns aufs Neue nachdenklich.
Zu Eckermann sagt Goethe am 15. Februar 1824: „man hat mich immer als einen vom Glück besonders Begünstigten gepriesen; auch will ich mich nicht beklagen und den Gang meines Lebens nicht schelten. Allein im Grunde ist es nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, daß ich in meinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt. Es war das ewige Wälzen eines Steines, der immer von neuem gehoben sein wollte.“
Seine Dichtung spricht noch deutlichere Worte. Viele seiner Hauptgestalten sind gescheiterte Existenzen: Der Werther – sein ganzes Dasein ist zusammengefaßt in der Liebe zur Frau eines Freundes; und da er die nicht kriegen kann, erschießt er sich.
Wilhelm Meister ist ein begabter Schauspieler, Regisseur und Stückeschreiber. Was macht er aus seiner Begabung? Er kehrt ins bürgerliche Leben zurück, aus dem sein geringschätzig betrachteter Bruder niemals ausgebrochen ist, und wird Wundarzt.
Faust, die Zentralfigur goethescher Dichtkunst, ist als gescheiterte Existenz zu bezeichnen. Er scheitert als Alchemist und Philosoph. Er scheitert als Liebhaber, und er scheitert als Beglücker der Menschheit.
Durch göttlichen Gnadenakt wird er gerettet; „Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen.“
(Faust II, 11936 f.)
Tasso, ein selbstquälerischer, überempfindlicher Dichter, ist nach Goethes Worten ein „gesteigerter Werther“.
(Zu Eckermann am 3. Mai 1827).
Torquato Tasso lebt am Hofe zu Ferrara zu Zeiten der Renaissance. Gegenüber den Erfolgsmenschen, die ihn umgeben, fühlt er sich als Gescheiterter:
„Es liegt um uns herum gar mancher Abgrund, den das Schicksal grub; doch hier in unserm Herzen ist der tiefste.“
(Berliner Goethe- Ausgabe, Bd. VII, S. 811)
„Ich kenne mich in der Gefahr nicht mehr
Und schäme mich nicht mehr, es zu bekennen.
Zerbrochen ist das Steuer, und es kracht
Das Schiff in allen Seiten. Berstend reißt
Der Boden unter meinen Füßen auf!“
(A. a. O. S. 822)
In den Wahlverwandtschaften beschreibt Goethe den Konflikt zwischen einer ehelichen Bindung und einer freien Neigung. Die Handlung des Romans endet in einer Katastrophe ohne den geringsten Ausblick auf eine Lösung des Konfliktes. Dreizehn Jahre nach Erscheinen des Romans schrieb Goethe über die Richtung seines Werkes: „Niemand verkennt in diesem Roman eine tief leidenschaftliche Wunde, die im Heilen sich zu schließen scheut, ein Herz, das zu genesen fürchtet.“
(BA, Bd. XII, S. 531)
Der geschichtliche Götz von Berlichingen starb, trotz aller Konflikte, in die er geraten war, 1562 auf seiner Burg im Alter von 82 Jahren. Goethe schildert ihn als eine Art Prometheus, der tragisch endet. Im Gefängnis, kurz vor seinem Tod, bekennt der Ritter: „Stirb Götz! Du hast dich selbst überlebt.“

Haben sich unsere humanistischen Werte, wie sie in Klassik und Romantik beschrieben wurden, überlebt? Eine Frage, die gestellt werden muß.
Der Publizist Gabor Steingart veröffentlichte zu diesem Thema unlängst einen Essay: „Das Ende der Normalität, Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war.“
(G. Steingart, München/Zürich, 2011)

„Die alte Normierung der Gesellschaft hebt sich auf. An ihre Stelle tritt keine neue Normierung, sondern eine Inflation von Wirklichkeiten, das Nebeneinander von falsch und richtig, die friedliche Koexistenz von Widersprüchen. Wir erleben in unserer Gegenwart nicht das Ende der einen und den Beginn einer anderen Normalität, sondern das Ende von Normalität.“
(G. Steingart, a. a. O., S. 15)
Ein Lieblingswort Goethes ist „das Problematische“. Er selbst hatte viel Problematisches in sich. Er war ständig auf der Flucht – vor Frauen, also vor menschlichen Bindungen – und vor einengenden Verhältnissen. Am wohlsten war es ihm auf Reisen oder wenn er sich nach Jena oder Dornburg zurückziehen konnte. Von Karlsbad aus flüchtete er nach Rom unter falschem Namen (Johann Phillipp Möller) und teilte zunächst nur seinem Diener Seidel die Adresse mit. Schließlich schrieb er nach Weimar an die Freunde: „So habt ihr den Begriff von mir als eines abwesend Lebenden, da ihr mich so oft als einen gegenwärtig Toten bedauert habt.“
(BA, Bd. XIV, S. 568, am 11. August 1787)
Später schrieb er: „Ja ich kann sagen, daß ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. – Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh geworden.“
(BA, Bd. XIV, S. 893, zu Eckermann am 9. Oktober 1828)
Faust I – ist nach seinen eigenen Worten aus einem dunklen Zustand heraus entstanden.
(Gespräche mit Eckermann, Leipzig 1968, S. 348)
Nahezu bis zum vierzigsten Lebensjahre wußte Goethe nicht, welches der Schwerpunkt seiner Begabung sei. Bis dahin glaubte er sein eigentliches Talent sei die Malerei. Schließlich schreibt er aus Rom am 14. März 1788:
„In Rom habe ich mich selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir selbst glücklich und vernünftig geworden.“
(BA, Bd. XIV, S. 726)
An anderer Stelle: „Täglich wird mir´s deutlicher, daß ich eigentlich zur Dichtkunst geboren bin…. Von meinem längern Aufenthalt in Rom werde ich den Vorteil haben, daß ich auf das Ausüben der Bildenden Kunst Verzicht tue.“
(BA, Bd. XIV, S. 714)
Nun aber zur Zusammenfassung noch ein letztes Zitat, über das sich Ortega Y Gasset gefreut hätte, wenn es ihm zu Ohren gekommen wäre. Mit etwa sechzig Jahren schreibt Goethe an seinen Musikerfreund Karl- Friedrich Zelter:
„Wenn das taedium vitae (der Überdruß am Leben) den Menschen ergreift, so ist er nur zu bedauern, nicht zu schelten. Daß alle Symptome dieser wunderlichen (…) Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran läßt Werther wohl niemand zweifeln. Ich weiß recht gut, was es mich für (…) Anstrengungen kostete, damals den Wellen des Todes zu entkommen, so wie ich mich aus manchem späteren Schiffbruch nur mühsam rettete.“
(Artemis Ausgabe, Zürich, 1948 ff., Band 19, S. 681)
In dem Buch von F. Nager „Goethe – Der heilkundige Dichter, (S. 182), wird die Formulierung: „stirb und werde“ angeführt. Das hat der Dichter nicht nur so dahingesagt, sondern zeitlebens praktiziert.
Nicht umsonst erinnert hier ein Arzt an Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ aus dem West- östlichen Divan, wo es heißt:

„Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.“
Goethe (BA, Bd. III, S. 22)
Goethe spricht hier nicht allein von seelischem Empfinden, sondern von einem seelisch-körperlichen Prozeß, den er mehrfach in seinem Leben erlitten hat. Goethe der 74-Jährige hatte sich leidenschaftlich in die neunzehnjährige Ulrike von Levetzow verliebt und sie sich in ihn. Ein Heiratsantrag, den der Großfürst übermittelte, wurde von der Familie abgewiesen. Damit sah Goethe im Herbst 1823, am 5. September, in Marienbad die Geliebte zum letzten Mal. Seine schmerzvollen Gefühle drückte er während der Rückreise in einem seiner vollendeten Gedichte, der „Marienbader Elegie“ aus. Er konnte sich jedoch durch das Dichten nicht stabilisieren, der Schock, der ihn getroffen hatte, war zu gewaltig.
Kanzler von Müller notiert am 6. November besorgt in sein Tagebuch:

„Goethe war in der Nacht erkrankt, heftigster Husten mit Brustfieber.“
(Biedermannsche Ausgabe, Bd. I, S. 613)

In der Elegie heißt es (S. 117 ff):
„Schon rast´ s und reißt in meiner Brust gewaltsam,
Wo Tod und Leben grausend sich bekämpfen.
Wohl Kräuter gäb´ s, des Körpers Qual zu stillen;
Allein dem Geist fehlt´ s am Entschluß und Willen.“

Neben vielen anderen Persönlichkeiten besucht ihn sein Freund Karl- Friedrich Zelter. Er liest dem Kranken auf dessen Wunsch mehrmals täglich die Elegie vor, um dessen innere Kräfte zu stärken.
Das Wunder geschieht wiederum:
Mitte Dezember zeigt sich bei dem Kranken eine sichtbare Besserung.
Zelter notiert:
„Ein schweres Krankenlager erfolgte…im Spätherbst 1823, und die Weimarischen Ärzte erwarteten Goethes Tod.
Schon zweimal hatte ich den Freund in ähnlichen, dem Tode nahen Zustande angetroffen, und ihn unter meinen Augen gleichsam wieder aufleben sehen.“
(Biedermannsche Ausgabe, Bd. III, 1, S. 638)

In den folgenden Jahren wendet sich Goethe betrachtend und dichtend intensiv der Natur zu, um wie Faust in ihrem Abglanz das Unendliche zu erleben und um Heilung zu finden. Er bezieht sogar im Mai 1827 für zwei Monate sein altes Gartenhaus, um dort im engsten Umgang mit der Natur zu leben, wie er es erstmalig mit 26 Jahren getan hatte.
(Trunz, Anmerkungen zu Goethes Gedichten, S. 740)
 


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