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Raúl Zurita

Las ciudades de agua. Die Wasserstädte

 

2012, (zweisprachige Ausgabe, span. u. dt.), hrsg. v. Liliana Bizama Muñoz, 132 S., ISBN 978-3-86465-008-6, 14,80 EUR


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Am 13.3.2012 fand in Berlin eine gemeinsame Lesung von Raúl Zurita und Óscar Hahn im Instituto Cervantes, Rosenstraße 18-19, 10178 Berlin statt.

 

Rezensionen

 

 

Sueño 97/ A Kurosawa

 

 

Los farellones recortaban abajo la herradura del mar y en lugar de las casas playeras edificadas en las terrazas de los acantilados, se erguían arcos y columnatas de una antigüedad indescifrable que descendían escalonadamente hasta el comienzo de la playa. El sol todavía alto le imprimía al mar una solidez radiante y cuando finalmente llegué
a su orilla, la intensidad de sus tonos se abrió de golpe inundándome los ojos. Las rompientes se hacían cada vez más altas, más resplandecientes
y luminosas, y sin emitir un sonido sus resacas iban y venían cubriendo la arena con infinitas líneas de colores. Hundí entonces mis pies en los bordes y vi que el mar eran llanuras y llanuras de cuerpos muertos, extensiones interminables de torsos exánimes, de vientres que ondeaban igual que paños extendiéndose hasta el horizonte, mientras más acá, siguiendo la curvatura de las rompientes, los cadáveres ascendían doblándose hasta aparecer por un segundo transparentados
en la cumbre de la ola para luego derrumbarse.
Eran millones de millones de caras con las bocas abiertas, infinidades de espaldas, de brazos y piernas barriendo una y otra vez la playa como
si fueran cuerdas pintadas. Kurosawa, alcancé
aún a gritarle, este no es un sueño, este es el mar.
 

 

 

 

Traum 97/ Kurosawa

 

 

Die Steilklippen durchschnitten unten das Hufeisen des Meers und anstelle der Strandhäuser, die auf den Vorsprüngen der Felsenküste gebaut waren, erhoben sich Bögen und Kolonnaden unentzifferbaren Alters, die sich in Stufen bis zum Anfang des Strands hinabstreckten.
Die Sonne stand noch hoch und drückte dem Meer eine strahlende Festigkeit auf, und als ich schließlich zu seinem Ufer gelangte, öffnete sich mit einem Schlag die Intensität
seiner Farbtöne und überschwemmte meine Augen. Die brechenden Wellen wurden immer höher, strahlender und heller, und geräuschlos kam und ging die Brandung und
bedeckte den Sand mit endlosen Linien aus Farben. Da versenkte ich meine Füße im Ufersand und sah, dass das Meer eine einzige Ebene toter Körper war, endlose Weiten von leblosen Rümpfen, von Bäuchen, die sich wellten wie Tücher und bis zum Horizont ausbreiteten, während sich weiter vorne, entlang der Biegung der brechenden Wellen, die Leichen krümmten und anstiegen bis sie sekundenlang auf dem Gipfel transparent wurden, um danach hinabzustürzen. Es waren Millionen und Abermillionen Gesichter mit offenen Mündern, Unmengen von Rücken, Armen und Beinen, die immer wieder über den Strand fegten, als wären sie bemalte Seile. Kurosawa, schaffte ich noch, ihm zuzuschreien, das ist kein Traum, das ist das Meer.

 

 

Inhalt



DIEZ SUEÑOS PARA KUROSAWA
   Zehn träume für Kurosawa 7

Little Boy 29

CIUDADES
   STÄDTE 59

LAS CIUDADES DE AGUA
   DIE WASSERSTÄDTE 67
 



Nachwort 105

Zum Autor Raúl Zurita 123

Tabellarischer lebenslauf 125

Zur Übersetzung 129

Zu den Übersetzerinnen 129

 


 

 

 

 

 

Zum Autor Raúl Zurita

Raúl Zurita (Santiago de Chile, 1950) studierte Bauingenieurswesen an der Universität Santa María de Valparaíso. Er veröffentlichte zahlreiche Gedichtbände, Essays und autobiographisch-poetische Prosa: Purgatorio (1979); Anteparaíso, (1982); El paraíso está vacío, (1984) Canto a su amor desaparecido, (1985); El amor de Chile (1987); Canto de los ríos que se aman, (1993); La Vida Nueva, (1994); El día más blanco (2000), Sobre el amor el sufrimiento y el nuevo milenio (2000), Poemas Militantes, (2000), INRI, (2003), Mi mejilla es el cielo estrellado, (2004) y Las ciudades de agua (2006), Los poemas muertos (2006), Los países muertos (2007), Zurita/ In Memoriam (2007), Sueños para Kurosawa (2010), Cuadernos de guerra (2010) y Zurita (2011), ein Buch von 750 Seiten in drei Teilen, das den Zeitraum vom Vorabend des 10. bis zum 11. September 1973 abdeckt, den Tag des Militärputsches von Pinochet in Chile. 1979 gründet er gemeinsam mit anderen Künstlern die Gruppe CADA (Colectivo de Acciones de Arte), die sich einer öffentlichen, großformatigen Kunst des politischen Widerstands gegen die Militärdiktatur widmete. 1982 lässt er das Gedicht „La Vida Nueva“ („Das Neue Leben“) mit Flugzeugen in den Himmel von New York schreiben und den Schriftzug „ni pena ni miedo“ („Weder Leid noch Angst“) in einer Größe von 3184 m (und so nur aus der Höhe erkennbar) in die Atacama-Wüste graben. Eine Zeile seines Gedichts „Canto a su amor desaparecido“ („Lied seiner verschwundenen Liebe“) ist über der Gedenkmauer für die politischen Häftlinge und Verschwundenen der chilenischen Diktatur (Memorial de los Detenidos Desparecidos de Chile) eingraviert. Er bekam Stipendien der John-Simon-Guggenheim-Gedächtnis-Stiftung und des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) und diverse Preise verliehen, darunter den Preis der Fundación Pablo Neruda (1989), Pericles (Italien, 1995), Premio Municipal de Literatura (Chile, 1995), Premio Nacional de Literatura (Chile, 2000) und den Premio José Lezama Lima (Cuba, 2006). Bücher und Gedichte Zuritas wurden in zwölf verschiedene Sprachen übersetzt, unter anderem ins Englische, Deutsche, Schwedische, Portugiesische, Italienische, Russische, Türkische, Bengalische und Chinesische. Zurzeit ist Raúl Zurita Professor für Literatur an der Universität Diego Portales in Chile.

 

 

Nachwort



Raúl Zurita (geb. in Santiago de Chile, 1950) zählt zu den renommiertesten Vertretern der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur. Am 11. September 1973 wurde er als Student der Ingenieurwissenschaften an der Universidad Federico Santa María in Valparaíso direkt nach dem Militärputsch Pinochets verhaftet und in einem Schiff vor der Küste der gleichen Stadt mehrere Tage unter entsetzlichen Bedingungen gefangen gehalten. Diese Erfahrung wurde zum prägenden Trauma, die Gewalt der Diktatur zum wichtigsten historischen Referenzpunkt von Zuritas Poesie. Sie markiert zugleich den spezifisch chilenischen Erfahrungshorizont und damit den gesellschaftlichen Kommunikationshintergrund, vor dem Zuritas Textwelten eine politische Bedeutung erlangen.
Als Mitgründer der Bewegung C.A.D.A. (Colectivo de Acciones de Arte) mit ihrem Motto ARTE ES VIDA („Kunst ist Leben“) realisierte Zurita Ende der 70er bis in die 80er Jahre zahlreiche Kunstaktionen und Projekte. Diese erste Phase seiner Kunst ist von der provokativen Überschreitung traditioneller Kunstformen und von einem ausgeprägten politischen Engagement gekennzeichnet. Trotz Diktatur und Zensur entwickelt sich in diesen Jahren in Chile ein lebhafter Austausch innerhalb der oppositionellen Kunstszene, mit prägenden Figuren wie Juan Luis Martínez, Diamela Eltit oder Lotty Rosenfeld. Die C.A.D.A. Bewegung macht dabei mit politischen Performances von nie dagewesener Radikalität auf das Klima der Gewalt im Land aufmerksam. So stellte Zurita als Zeichen seines Protestes in diesen ersten Jahren der Diktatur Akte der Selbstverletzung aus wie die Verbrennung der linken Wange mit einen Bügeleisen und die Verätzung der eigenen Augen mit Ammoniak. In diesen „Überlebensaktionen“, wie der Autor sie definierte, spiegelt sich eine tiefe existenzielle und persönliche Krise und das Bedürfnis, die Schmerzerfahrung und Verletzbarkeit des Menschen in Zeiten der Gewalt Ausdruck zu verleihen. Als spektakuläre Formen dieser Protestkunst wurden insbesondere zwei Aktionen Zuritas bekannt: Die ‚Beschriftung‘ des Himmels mit Versen des Bandes Anteparaíso, die mittels Kondensstreifen von einem Flugzeug in den Himmel über New York gezeichnet wurden, und die gigantische „Einschreibung“ („inscripción“) des Verses „ni pena ni miedo“ in der Atacamawüste (aufgrund der Mehrdeutigkeit des Wortes „pena“ vielfach übersetzbar als: „Weder Leid/Mitleid/Strafe noch Angst“) – ein Schriftzug von solchen Ausmaßen, dass er nur aus großer Höhe vom Flugzeug aus lesbar ist und so gleichzeitig an die Nazca-Spuren in den peruanischen Anden erinnert. In beiden Aktionen artikuliert sich beispielhaft das die Grenzen traditioneller Medien sprengende Potenzial, das die erste Phase seiner Dichtung auszeichnet: Der poetische Text bricht aus der Buchseite aus und kehrt in erneuerter Form auf diese zurück, u.a. in Form der Fotographien der in die Landschaft der Wüste, den Himmel eingeschriebener Zeichen.
Die Landschaftsbilder der einzigartigen Geographie Chiles, die in Zuritas Gedichten immer wieder mit eigentümlicher sprachlicher Kraft entworfen werden, evozieren beständig die nationale Wirklichkeit als Bezugshintergrund: die Andenkordillere, die Vulkane, die Atacamawüste, das Valle Central (Zentraltal), die Tausende von Küstenkilometern aus Felsen, Sand und Meer. Diese Topographien haben eine emblematische Rolle in der Vorstellung von Nation und kollektiver Identität der Chilenen: In der chilenischen Nationalhymne wird das Land vor allem als Naturraum imaginiert und die Reinheit des blauen Himmels, die majestätischen weißen Berge, das Meer als Garten Eden und als Bollwerk der Freiheit besungen. Diese nationalmythische Bedeutung der Landschaft schwingt in Zuritas Gedichten mit, doch die Reinheits- und Freiheitsversprechen sind hier gebrochen. Das nationale Landschafsrelief ist in den Gedichten Zuritas durchzogen von den Spuren der Verschwundenen und Toten. Die emblematische Geographie Chiles verwandelt sich so in ein Mnemotop der Diktatur – eine Topographie, die an die politische Repression erinnert: „Die Andenkordillere war zur Zeit der chilenischen Diktatur das riesige Abbild ihres Gefängnisses: Sie wuchs um ein 10.000faches an. Als ob das alles eine Strafkolonie gewesen wäre. Die Andenkordillere war Symbol der Unterdrückung, der Gefangenschaft, unserer Trennung und Isolation“, erklärt Zurita in einem Interview. Um sich der Leichen der verschwundenen politischen Gefangenen, der desaparecidos, zu entledigen, verstreuten Militärs und Geheimdienste deren Überreste von Flugzeugen aus über dem Meer und den Bergen, verscharrten sie in Massengräbern an unbekannten Orten in der Atacama-Wüste. Auf den Spuren ihrer vermissten Familienmitglieder durchkämmen noch heute, fast vier Jahrzehnte später, einzelne Hinterbliebene diese endlose Landschaft aus Sand, Geröll und Salz und suchen nach menschlichen Knochenstücken. Die Suche und die Phantasie der Wiederbegegnung mit verlorenen Weggefährten werden in Zuritas Gedichten ständig zum Thema, ein kontinuierliches Gefühl ihres Verlusts ist als unterschwelliger Bedeutungsstrom präsent. Immer wieder erzählen sie vom Alpdruck der Kommunikationsunfähigkeit und Unerreichbarkeit eines geliebten Gegenübers und führen so die psychischen Folgen der Praxis des ‚Verschwindenlassen‘ vor Augen, die einen Abschluss und Abschied von den Toten unmöglich machte. Zu einem stellvertretenden Ritual des Gedenkens an die desaparecidos und des Protestes wurden die Wallfahrten zu der Kalkmine von Lonquén – vom Lichtermeer ihrer Kerzen erzählt das vorletzte Gedicht der Wasserstädte. Hier wurden 1978 die Leichenteile von 15 Menschen gefunden und erstmalig seit dem Putsch Pinochets offiziell als Reste von Verschwundenen identifiziert. Dies war der Moment, da sich die meisten Hinterbliebenen mit der großen Wahrscheinlichkeit konfrontieren mussten, dass auch ihre Vermissten ermordet und ‚beseitigt‘ worden waren.
In Zuritas Poesie zeigt sich ein Bedürfnis, diese Erfahrungen in die Landschaft ‚einzugravieren‘, ihm eine materielle Offensichtlichkeit zu verleihen und diese damit zugleich einer symbolischen Wiederaneignung zu unterwerfen: Der Naturraum gleicht so an vielen Stellen dem menschlichen Gesicht oder Körper, dem die Erfahrungen wie Verletzungen in die Haut geritzt werden. Neben dem genannten Wüsten-Schriftrelief „ni pena ni miedo“ bringt eines der bekanntesten Poesie-Fragmente Zuritas diese Einschreibung der Gewalterfahrung in den Landschaft und Körper als Form der symbolischen Wiederaneignung auf den Punkt: der aus dem Gedicht „Canto de su amor desaparecido“ („Lied seiner verschwundenen Liebe“) stammende Vers, der in die Gedächtnismauer eingraviert ist, die für die Verschwundenen und Ermordeten der Pinochet-Diktatur am Haupteingang des Hauptfriedhofs in Santiago errichtet wurde und über 3000 Namen trägt: „Todo mi amor está aquí, y se ha quedado: pegado a las rocas, al mar y la montaña“ („Meine ganze Liebe ist hier und hier geblieben: in die Felsen, das Meer und den Berg geschlagen“). Die Kraft dieser Poesie-Fragmente liegt vielleicht in einem traurigen und zugleich tröstlichen Paradox – sie führen gewissermaßen vor Augen, was sie beschwörend verneinen: Mit ihnen hat sich die Landschaft dauerhaft in ein Zeichen des Schmerzes verwandelt, und doch behaupten sie die Uneinnehmbarkeit des Naturraums als Bollwerk der Liebe, der Negation von Angst und Leid. Gegenüber der Immensität und dem Alter der Landschaft ist das menschliche Leid augenblickshaft und klein, so bedeutet diese für Zurita zugleich ein Widerstand gegen die Einschreibung und ein Trostraum, dessen urtümliche Macht in letzter Instanz von den historisch-politischen Gewalterfahrungen unberührt bleibt. In dieser Ambivalenz bleibt auch in den Gedichten Zuritas eine Erfüllungsverheißung von Freiheit und Liebe mit der Landschaft verknüpft. Doch gerade in seiner kompensatorischen Funktion trägt der schöne Traum der Erfüllung einen Verweis auf das Ausmaß der historischen Verlust- und Schmerzerfahrung in sich, dem er als Sehnsucht entspringt.
Dies zeigt sich in den drei bekanntesten Gedichtbänden Zuritas, dem dreiteiligen Gedichtzyklus Purgatorio („Fegefeuer“, 1979), Anteparaíso („Vorhimmel“, 1982) und La vida nueva („Das neue Leben“, 1993), der an Dantes »Divina Commedia« anknüpft – ein für den italienischstämmigen Zurita maßgeblicher kultureller Prätext, der schon seine Kindheitserfahrungen stark beeinflusste. Die poetische Trilogie ist eine Aufarbeitung der Leidens- und Hoffnungsgeschichte des chilenischen Volkes und des ganzen Landes als „verletzter Körper“ und konstituiert sich als Ausdruck einer sozialen Katharsis, in deren Mittelpunkt der dramatische historische Bruch in der Kunst und im Leben Chiles durch die Diktatur steht. Diese Erschütterung nimmt die Poesie Zuritas in ihren poetologischen Grundlagen auf, sie markiert damit auch eine ästhetische Wende, die in mehrerer Hinsicht mit den Traditionen der chilenischen Kunst und Literatur (repräsentiert durch große Namen wie die Nobelpreisträger Gabriela Mistral und Pablo Neruda) bricht. Die Sprache der Dichtung wird sich von nun an wesentlich aus dem Schmerz und einer aus dieser Schmerzerfahrung heraus ersehnten kollektiven Utopie speisen. Damit hat seine Dichtkunst der chilenischen Literatur der letzten 35 Jahre einen ganz neuen Impuls gegeben, der Teil einer vielgestaltigen Erfahrung mit Diktaturen auf dem südamerikanischen Kontinent ist und gerade deshalb weit über Chile hinausreicht. Zwar ist uns in Deutschland die Auseinandersetzung mit dem Trauma einer Diktatur und mit dem Gedenken an ihre Opfer natürlich wohlvertraut, doch wie Zurita mit diesem Thema umgeht, wie er es in dichterischen Bildern gestaltet, ist einzigartig. Zurita schafft mit einem düsteren Stoff neuartige Bilder von eigensinniger Schönheit.
Mit der Veröffentlichung von Purgatorio erlangt Zuritas Dichtung 1979 nationale Anerkennung und einen bemerkenswerten Erfolg – paradoxerweise just im Moment der strengsten Zensur, welche die Kultur und das öffentliche Leben in Chile je erlebt haben. Bereits in den 1980er Jahren findet die Poesie Zuritas – vor allem dank der Vermittlerrolle Mexikos, ein Land, in dem Zurita von Anfang an viel gelesen und rezipiert wurde – ihren Weg in literarische und akademische Kreise der USA, wo Zurita mittlerweile der meistgelesene lateinamerikanische Lyriker ist. Heute gilt der Band Purgatorio, der in seiner aufgeladenen Symbolhaftigkeit nicht leicht zu deuten ist und dessen breiter Erfolg daher umso erstaunlicher ist, als eine der bedeutendsten dichterischen Auseinandersetzungen mit dem kollektiven Trauma des Landes unter seinem autoritären Regime. Er beschreitet den poetischen Parcours eines gestörten Lebensmoments, eines scheiternden multiplen Ichs, gezeichnet von der Realität des Autoritarismus.
Auf der Grundlage einer illusionslosen Bestandsaufnahme der von der Diktatur erzeugten psychischen und sozialen Verwerfungen entwickelt Zurita eine utopische und mythischen Dimension, die insbesondere auch für die Gedichte prägend ist, die in der Zeit der sogenannten transición entstanden sind, also jener schwierigen und konfliktgeladenen Phase des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie nach 1990. Unter diesen Werken, die nach der Militärdiktatur entstanden und der politischen Übergangszeit Chiles zuzuordnen sind, finden sich die Bände Canto de los ríos que se aman (Gesang der liebenden Flüsse, 1997), INRI (2003), Los países muertos (Die toten Länder, 2006), Las ciudades de agua (Die Wassertädte, 2007), In memoriam (2007) und Cuadernos de guerra (Kriegshefte, 2009). Im Jahr 2011 erschien sein bislang letztes und umfangreichstes Werk mit dem Titel Zurita, das der Autor als sein abschließendes poetisches Vermächtnis begreift.
Beispielhaft für die Sehnsucht einer Transformation der Leid­erfahrung in die Utopie der ‚Wiederauferstehung‘ steht der Band La nueva vida („Das neue Leben“), der testimoniale Formen der Zeugenschaft integriert: Mittels der Transkription von zehn Träumen der Bewohner des Armenviertels Silva Henríquez in Santiago findet hier – neben dem Alptraumhaften der Vergangenheit – gerade auch der Wunsch-Traum Ausdruck in Zuritas Textwelten. Der dokumentarische Einbezug dieser Traumerzählungen ist eine von vielen Techniken Zuritas, eine Stimmenvielfalt zu kreieren, die für seine Poesie charakteristisch ist. In ihr vollzieht sich der Übergang von der Stimme des Einzelnen zur Stimme der Gemeinschaft, zur Stimme der Erniedrigten, zur Stimme derjenigen, denen das Wort verweigert wird, zu den Verschwundenen. Dieses poetische Verfahren setzt auf eine demokratisierende Kraft der Dichtung, welche das mögliche kollektive Imaginäre des Landes und seine Sehnsüchte artikuliert. Zuritas Dichtung wird so zum traumhaft verdichteten Epos der jüngeren chilenischen Vergangenheit; ein Panorama des Schreckens und des Infernos, das gerade in seiner dantesken Dimension verzweifelt an der Utopie der Liebe und der Versöhnung festhält.






Die Wasserstädte


Auch in diesem Gedichtband der Ciudades de Agua – Wasserstädte öffnet sich mit den zehn Träumen an und für Kurosawa die Tür zu einem Irrgarten der Architekturen des Traums. Dieses Labyrinth erstreckt sich durch alle Teile des Bandes: Es verknüpft in desorientierenden Schleifen die einzelnen Gedichte zu einem Netz an Verweisungen, eröffnet Querverbindungen, die den Leser an der Seite des geträumten und träumenden Ichs immer wieder aus anderen Richtungen an Orte gelangen lässt, die sich bald darauf als bekannt herausstellen. Dabei entsteht eine Räumlichkeit und Zeitlichkeit, die den eigentümlichen Regeln des Wiederholungs­traums zu gehorchen scheint – geprägt von Déjà-vu-Effekten, dem erneuten Durchleben situativer Konstellationen aus vertauschten Perspektiven, dem augenblicklichen Wissen von der Zukunft im Ablauf einer Sequenz oder der plötzlichen Erinnerung an einen verlorenen Fixpunkt: ein Jahr, ein Ort, eine Person. So entfaltet sich ein Intensitätsraum, in dem sich Erträumtes und Halluziniertes, Vergangenheit, selbstprophezeite Zukunft und gegenwärtige sensuelle Empfindungen assoziativ überlagern und miteinander verschwimmen.
Ein Name, ein Ort und ein Jahr scheinen in den Anfangszeilen von „Mi Nombre: Akira Kurosawa“ zunächst – ähnlich den ‚Traumdokumentationen‘ in La vida nueva – protokollarisch ein Aussagesubjekt und eine Wirklichkeitsebene zu etablieren, von der aus geträumt und erzählt wird. Doch sind bereits die Ausgangskoordinaten aus der Materie des Traums gemacht. Das Ich stellt sich mit dem Namen eines anderen vor, trägt aber deutlich autobiographische Züge: Seine Gegenwart lässt sich mit Zuritas Berlin-Aufenthalt im Rahmen eines DAAD-Stipendiums im Jahr 2002 identifizieren, in seiner Traumvergangenheit finden sich Erinnerungen aus Zuritas autobiographischem Roman El día más blanco und die Figuren seiner prekären Kindheit wieder, die seine Gedichte immer wieder durchgeistern: allen voran die italienische Großmutter mit ihrer Migrationsvergangenheit, deren epische Lektüren und Dante-Rezitationen die Vorstellungswelt Rauls prägten, neben ihr die fragile, alleinstehende Mutter, die dem Kind kaum Rückhalt bieten kann, auch die abwesende Figur des früh verstorbenen Vaters. Die zentrale autobiographische Referenzachse ist jedoch auch hier die Erfahrung von politischer Repression, Gefangenschaft und Folter während des Pinochet-Regimes: Das Ich spricht von Anfang an als Überlebender der Diktatur. Durch die beharrliche Wiederkehr bestimmter autobiographischer Erinnerungsinhalte in Form von Selbstzitaten und Neuschreibungen scheint es, als enthielten sich Zuritas Texte gegenseitig und komplementierten sich gleichzeitig. Es entsteht eine Form der Auto-Intertextualität, die die Geschlossenheit einzelner Textuniversen aufbricht und diese dauerhaft durchlässig macht auf die Lebensrealität Zuritas, der gleichzeitig als ‚Figur‘ entsteht.
Das traumerzählende, halluzinierende und erinnernde Ich in den Wasserstädten ist von diesem autobiographischen Subjekt kaum zu trennen und ist dabei doch ständig ein anderer. Von Beginn an träumt es sich in die „Träume“ des japanischen Regisseurs Kurosawa ein und vernetzt sich dabei mit den Bilderwelten seines bekannten Films „Yume“ („Träume“, 1990), in dem dieser in acht Episoden seine Kindheits- und Erwachsenenträume in Szene gesetzt hat. Kurosawas filmisches Werk wird in ‚Zurita‘ zum Sprechen gebracht, seine Visionen werden zum ‚Stoff‘ für dessen Traumwelt und Kurosawa zugleich in eine Figur in Zuritas Traum verwandelt. Auf diese Weise beginnt ein intertextueller und intermedialer Überblendungs- und Transpersonalisierungsprozess, der das Ich in Bewegung setzt und seine Imaginationen und Erfahrungen mit denen anderer verschmelzen lässt.
Es setzt sich so eine Dynamik von Kristallisierung und Verflüssigung in Gang, die für die Wasserstädte bestimmend bleibt. Sie steht zugleich für den Versuch der Realitäts- und Identitätsversicherung und sein ständiges Scheitern. So entsteht zwar ein autobiographischer Verweisungshorizont, jedoch kein stabiler Mittelpunkt. Hier erzählt ein krisenhaftes Subjekt mit „leerem Leben“, das in seiner Instabilität und Porosität die Erfahrungen verschiedener Länder und Zeiten in sich aufnimmt und das „ganze Erdenrund“ und „Millionen Jahre“ über sich hereinbrechen fühlt. Diese Form der Entgrenzung ist eng verknüpft mit Gewalt und massenhaftem Tod, in ihrem Erleben beginnen sich in den Wasserstädten die großen kollektiven Katastrophenereignisse mit den Schrecken der Pinochet-Diktatur zu überlagern – allen voran der Zweite Weltkrieg und der Atombombenabwurf auf Hiroshima. Diese sind auch die zentrale Bezugspunkte von Kurosawas Alptraumepisoden des Überlebens in „Yume“, in denen sich die träumende Hauptfigur in postapokalyptischen Landschaften wiederfindet – nach dem Weltkrieg, dem Atomkrieg oder der Explosion eines Atomkraftwerks. In der Überlagerung der Szenerien und Identitäten entsteht dabei zugleich eine Amalgam der Generationen, Kulturen und Geschlechter: Das Ich der Wasserstädte fusioniert unter anderem mit der japanischen Mädchen-Gestalt Yazuhiko, hinter der die reale Person des Yasuhiko Taketa erkennbar wird – ein Überlebender des Atombombenabwurfs von Hiroshima, der ein schockierendes Zeugnis davon abgelegt hat, wie er als kleiner Junge auf dem Bahnhof den Einschlag der Bombe (die den Namen „Little Boy“ trug) erlebte. Eine Bahnhofsszene, die in den „Glanz von Millionen Sonnen“ mündet, wird in den Wasserstädten mehrfach aus vertauschten Blickwinkeln durchlebt: aus der Bodenperspektive der wartenden kleinen Yazuhiko (die zugleich der kleine Junge ‚Zurita‘ ist), ihres im Zug einfahrenden Vaters (der zugleich der junge Mann Zurita und auch Kurosawa ist) und aus der Luftperspektive des Piloten Paul (als historische Person: Paul Tibbets – US-Air-Force-Flieger im zweiten Weltkrieg), der die schreckliche Fracht über der Landschaft abwirft. Auch er ist ‚Zurita‘ und so verschmilzt seine Täterschuld mit einem Gefühl der Scham und Schuld, die das Ich aus der Perspektive des Gewaltopfers und als Überlebender der Diktatur empfindet.
Diese Erfahrung des Überlebens spiegelt sich in den Wasserstädten in der ständigen Wiederholung eines Aufwachens, bei dem der Träumende wie aus einer tiefen Ohnmacht zurückkehrt und sich in eine kontextlose ‚Nachwelt‘ geworfen sieht. Es folgen Orientierungsvorgänge und Inventuren von Vergangenheitsresten, doch jedes Fußfassen auf dem Boden der Realität führt zu einem erneuten freien Fall in eine nächste Traumwelt. So entsteht eine Abgrundkonstruktion in Form einer Kette der Ersetzungen der Welten, die zur kompletten Diskontinuierung von Raum und Zeit führt, eine Chronik des Hinüberdämmers und der Bewusstseinsunterbrechungen, in der Momente des Aufwachens und des Einschlafens ununterscheidbar werden. Der „Tagesanbruch“ erweist sich dabei immer wieder als „zerbrochen“, der Modus der Verfremdung des Traums wird nicht aufgehoben. „Me saco la arena y empiezo a caminar desde la vida“, heisst es in „Little Boy, 4“ („Ich schüttele mir den Sand ab und beginne aus diesem Leben zu laufen“, aber auch: „Ich beginne, von diesem Leben her zu laufen“). Für den Überlebenden erscheint das eigene Leben wie ein Leben über den Tod hinaus, und das Gefühl des ‚(bei)nahen‘ eigenen Todes, das immer wieder in den Gedichten erscheint, lässt sich nicht abschütteln wie Sand.
Häufig vollzieht sich in den Wasserstädten durch Formen plötzlicher Gewalteinwirkung ein Umschlag einer alltagsähnlichen Situation in eine alptraumhafte Szenerie von Ohnmacht, Schmerz, Verfolgung. Dieses Umkippen der Realität gleicht dem Erleben ständiger ‚Flashbacks‘ des traumatisierten Subjekts, die durch kleine sensuelle Analogien zwischen gegenwärtigen und vergangenen Situationen hervorgerufen werden. Die Wasserstädte sind so auch eine Chronik von Retraumatisierungserlebnissen. In den Situatio­nen des Einbruchs der Realität lässt sich die Gewaltpraxis der chilenischen Militärdiktatur wiedererkennen: das Abholen von Menschen aus ihren Häusern, geheimdienstliche Verfolgung und Festnahmen, Lastwagenfahrten, Fußtritte und Gewehrkolbenschläge. Die Höhepunkte der Schmerz- und Schockmomente fungieren dabei wie Medien des Übertritts zwischen den Räumen und Zeiten, sie gleichen Türen, die im Traumlabyrinth der Wasserstädte die Welten miteinander verbinden. Es sind Entgrenzungserfahrungen im wörtlichen Sinne, in denen sich die Barrieren zwischen Eigen- und Fremderleben, Innen und Außen auflösen: In der Atombombenexplosion werden in einem Augenblick, in dem sich die Haut vom Körper löst, „alle Schicksale eins“ („todos los destinos se hacen uno“).
Diese plötzlichen Umschläge sind umso erschütternder, als sie sich in vielen Momenten aus dem Erleben von Schönheit, Erfüllung und Glück heraus ereignen. Die Erfahrung von Schönheit ist in den Wasserstädten oft verknüpft mit intensiven halluzinatorischen Wahrnehmungserlebnissen von Landschaften und Architekturen, die als Fata Morganen aus Lichtspiegelungen und Farbspielen erscheinen: fließend, kristallen und transparent. In dieser gläsernen Bildlichkeit werden die Glücksmomente mit dem Erleben von Zerbrechlichkeit und Zärtlichkeit verbunden. So werden empfindliche Stellen in den Lektüreprozess eingeführt, die eine dauerhafte ‚Immunisierung‘ des Lesers gegen die Gewalteinbrüche verhindern und diesen umso größere Durchschlagkraft verleihen. Sie führen zugleich jene Sehnsucht und das utopische Versprechen in das Traumerleben ein, das immer wieder erneut zerbricht. So führen die halluzinierten Glücksbilder der „Länder“, in denen sich nationale Räume als kartographisch vorgestellte Territorien in schwebende Gebilde verwandeln, zugleich die Fragilität des Subjekts vor der ‚Geschichte‘ und ‚Nation‘ vor Augen.
Die Logik des Traums, die Verflüssigung von Raum, Zeit und Identität, seine Wiederholungs- und Heimsuchungsstruktur ist also in Zuritas Poesie zugleich die des Traumas. Wie das Trauma setzt der Traum seiner Versprachlichung einen Widerstand entgegen: „Quise escribirlo, pero las palabras, como vísceras humeantes, llegaron muertas a mis dedos.“ („Ich wollte es schreiben, aber die Worte gelangten, wie dampfende Eingeweide, tot zu meinen Fingern.“) Im Prozess der Erzählung eines Traums geht die Realität des Traumerlebens verloren. Der Versuch, das Geträumte in Worte zu fassen, bedeutet zugleich eine Entzugserfahrung, eine Entfremdung gegenüber der Welt des Traums. Die Sprache Zuritas trägt – durch den Modus der Traumerzählung – einen ständigen Verweis auf das Scheitern des ‚Zufassenbekommens‘ und damit auch auf die verbleibende Fremdheit der Realität des Traumas in sich. Dabei verlieren sprachliche Formen in den Gedichten die Stabilität und die Eindeutigkeit ihrer Bezüge. Personalpronomen werden zu Variablen, die sich nicht mehr eindeutig füllen lassen: So wie das „Ich“ transitorisch besetzt wird, scheint das „Du“ mancher Gedichte zwischen der Selbstansprache und einem wechselnden Gegenüber hinüberzugleiten. Das Schwanken von Präpositionen bringt Beziehungsverhältnisse ins Rutschen: So ist in den Träumen an/für/von Kurosawa dieser Mal Subjekt der Traumerzählung, mal das Gegenüber, dem das Ich versucht, eine Intensitätserfahrung zu kommunizieren. In diesem Fluktuieren der Bedeutungen und Bezüge, das eine endgültige Schließung des Sinns unmöglich macht, widersetzt sich Zuritas Sprache totalitären Formen der ideo­logischen Festschreibung und Kontrolle der Bedeutungen, wie sie das diktatorische Regime in Chile versuchte. Das Durchwandern von Traum und Trauma als Randzonen der Sprache impliziert einen ständigen Fingerzeig auf das Andere der kollektiv verbürgten Realität und Geschichte: das nicht Sagbare und nicht Fixierbare, die nicht erinnerte, nicht integrierte Wirklichkeit, die jederzeit die ‚Normalität‘ zum Kippen bringen kann.
Die Orte und Räume der Wasserstädte sind Projektionsflächen emotionalen Erlebens und Kristallationspunkte von Erinnerungen. Die Wüste als Ort, der gedächtnislos ist und zugleich nichts vergisst, ist in Zuritas Gedichten ein Raum des Verschwindens und der Erscheinungen: In den Wasserstädten lässt Zurita die Salzwüste, die Berge mit ihren Vulkanen, die an den Sand- und Steilküsten brechenden Wellen in einer eigentümlichen Plastizität entstehen und umschlagen in Horrorreliefs aus Massen menschlicher Gliedmaßen und Körper. Der subjektiv durchlebte Raum wird, in dimensionalen Verschiebungen von Vorder- und Hintergrund, in bedrohlicher Enge und Weite zum Zeichen psychotischer Wahrnehmungskrisen, die die Landschaft in einen riesenhaften Projektionsraum psychischer Erfahrungen von Beklemmung, Angst und Ohnmacht verwandeln.
Die nationale Erinnerungslandschaft wird in den Wasserstädten mit Stadtbildern Santiagos, die Zuritas Kindheit entstammen, und Katastrophen-Mnemotopen anderer Länder und Zeiten zu ‚unmöglichen‘ Geographien verwoben. Als eine Art Déjà-Vu-Gedächtnispark, zu dem das Ich in seinen Wiederholungsträumen zurückehrt, tritt das Friedensdenkmal von Hiroshima in Erscheinung, geprägt von dem Zusammentreffen zweier Flüsse, einer großen Brücke und dem Denkmalgebäude mit der Atombombenkuppel. Der Zugang zu diesen Erinnerungsorten erfolgt an vielen Stellen über die Vermittlung durch das Medium der Fotographie oder des Films. Über die sprachliche Evokation von Zeitungs- und Plakatfotos, Kino- und Fernsehbildern finden kollektive Gedächtnisinhalte Eingang in die subjektive Traumwelt und beginnen mit den individuellen Lebenserinnerungen zu verschmelzen. Mittels solcher Intermedialitäten baut sich in Zuritas Textwelt eine Art ‚Weltgedächtnis‘ von Katastrophenbildern auf, ein Archiv kollektiver Alpträume, an dem wohl jeder Leser in irgendeiner Form partizipiert. Teil davon ist z.B. der Pink-Floyd-Song Mother, der eine Lastwagenfahrt durch die Atacama-Wüste mit einem ‚Soundtrack‘ versieht und von Kindheitsängsten – unter anderem vor der Atombombe – erzählt („Mother, do you think they‘ll drop the bomb?“). Teil davon sind auch die Zeitungsbilder von Sarajevo oder Szenen aus dem Dokumentarfilm Los niños de la guerra, der von dem Schicksal spanischer Bürgerkriegskinder in der Sowjetunion berichtet, aber auch die Bücher der Großmutter über die napoleonischen Kriege. In Kurosawa Film Träume findet sich in der Episode „Krähen“ seinerseits eine Inszenierung des ‚Sich-einträumens‘ in ein Bild als einen Moment des Über-Setzens in eine andere mediale Welt: Dort versenkt sich die Hauptfigur in einer Ausstellung in die Ölgemälde van Goghs und durchstreift eine Welt aus impressionistischen Strichlandschaften.
Über diese ‚globalisierten‘ medialen Bilderwelten wird der spezifisch chilenische Erfahrungshorizont anschließbar an andere kulturelle Kontexte. In der Frage nach dieser Anschließbarkeit ist auch das Problem der ‚Übersetzbarkeit‘ der Poesie Zuritas enthalten, bzw. nach den Widerständen, die sie möglicherweise einem deutschen Leser entgegensetzen. Zuritas Texte sind, darauf wurde bereits verwiesen, stark eingebettet in bestimmte kommunikative Zusammenhänge, die die soziopolitische und historische Realität Chiles betreffen und setzten so immer wieder ein bestimmtes kulturelles Wissen voraus, das insbesondere die Diktatur betrifft. Der Kommunikationskontext der Diktatur selbst, in dem Zuritas Poesie ihre Wurzeln hat, war stark von den Regeln der politischen Zensur geprägt. Die regimekritische Literatur machte sich daher oft Verfahren der Mehrdeutigkeit, des Schreibens in Metaphern und Auslassungen zur Strategie und setzte so gleichzeitig einen komplizenhaften Leser voraus, der in der Lage war, insbesondere in Bezug auf die Realität der politischen Verfolgung Anspielungen zu erkennen und zu entziffern. Diese Schreibweisen sind nach wie vor in Zuritas Gedichten präsent und erschweren an einzelnen Stellen den außenstehenden Lesern das Verständnis. Trotzdem hat unser Übersetzerteam darauf verzichtet, die entsprechenden Stellen oder Begriffe mit Fußnoten zu versehen, zum einen, da die ‚Enträtselung‘ ein Bestandteil der Lektüreerfahrung von Zuritas Poesie ist, zum anderen, da zahlreiche Bedeutungselemente der Wasserstädte jenseits dieses Detailverstehens Erfahrungsähnlichkeiten zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Horizonten etablieren.
Denn in gewisser Hinsicht ist das Über-Setzen bereits Teil der poetischen Struktur der Wasserstädte, insofern hier ständige Brückenschläge zwischen den Räumen und Zeiten stattfinden. Als solche Brücken fungieren körperliche und emotionale Grenz-Erlebnisse, die sich gerade im Prozess der raum-zeitlichen De- und Rekontextualisierung zu einem allgemein-menschlichen Erfahrungswissen herauskristallisieren. Die kulturelle ‚Übersetzbarkeit‘ dieser Erfahrungen wird gewissermaßen zu einer zentralen Aussage von Zuritas Wasserstädten, oder anders gesagt: Sie werden von den Bedeutungsstrukturen als Effekt hervorgebracht. Gerade im Bereich der Erinnerungskultur an die kollektiven Traumata der jüngsten Geschichte hat zwischen Deutschland und Lateinamerika bereits ein ausgiebiger kultureller Transfer stattgefunden: In der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg einerseits und der lateinamerikanischen Diktaturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts andererseits sind gemeinsame Verstehens- und Identifikationsvoraussetzungen entstanden, die zur ‚Übersetzbarkeit‘ von Zuritas Poesie beigetragen, und zu denen diese Übersetzung der Ciudades de Agua wiederum beitragen kann. In diesen Transfers nimmt zugleich ein umgekehrter Prozess seinen Lauf: Vertraute Territorien der Erinnerung werden verfremdet und erscheinen in neuem Licht. Und schließlich scheint auch die ‚archetypische‘ Grammatik des Traums als Randzone der Sprache zwischen den Kulturen zu vermitteln und zugleich immer schon auf eine Erfahrung der Nicht-Übersetzbarkeit zu verweisen, denn sie impliziert bereits das Problem des Verlustes dessen, was ‚eigentlich‘ gesagt sein sollte.

Stephanie Fleischmann
Liliana Bizama Muñoz


Berlin / Speyer, Januar 2012

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