Inhalt
DIEZ SUEÑOS PARA KUROSAWA
Zehn träume für Kurosawa 7
Little Boy 29
CIUDADES
STÄDTE 59
LAS CIUDADES DE AGUA
DIE WASSERSTÄDTE 67
Nachwort 105
Zum Autor Raúl Zurita 123
Tabellarischer lebenslauf 125
Zur Übersetzung 129
Zu den Übersetzerinnen 129
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Zum Autor Raúl Zurita
Raúl Zurita (Santiago de Chile, 1950) studierte Bauingenieurswesen an der
Universität Santa María de Valparaíso. Er veröffentlichte zahlreiche
Gedichtbände, Essays und autobiographisch-poetische Prosa: Purgatorio
(1979); Anteparaíso, (1982); El paraíso está vacío, (1984) Canto a su amor
desaparecido, (1985); El amor de Chile (1987); Canto de los ríos que se aman,
(1993); La Vida Nueva, (1994); El día más blanco (2000), Sobre el amor el
sufrimiento y el nuevo milenio (2000), Poemas Militantes, (2000), INRI,
(2003), Mi mejilla es el cielo estrellado, (2004) y Las ciudades de agua
(2006), Los poemas muertos (2006), Los países muertos (2007), Zurita/ In
Memoriam (2007), Sueños para Kurosawa (2010), Cuadernos de guerra (2010) y
Zurita (2011), ein Buch von 750 Seiten in drei Teilen, das den Zeitraum vom
Vorabend des 10. bis zum 11. September 1973 abdeckt, den Tag des
Militärputsches von Pinochet in Chile. 1979 gründet er gemeinsam mit anderen
Künstlern die Gruppe CADA (Colectivo de Acciones de Arte), die sich einer
öffentlichen, großformatigen Kunst des politischen Widerstands gegen die
Militärdiktatur widmete. 1982 lässt er das Gedicht „La Vida Nueva“ („Das
Neue Leben“) mit Flugzeugen in den Himmel von New York schreiben und den
Schriftzug „ni pena ni miedo“ („Weder Leid noch Angst“) in einer Größe von
3184 m (und so nur aus der Höhe erkennbar) in die Atacama-Wüste graben. Eine
Zeile seines Gedichts „Canto a su amor desaparecido“ („Lied seiner
verschwundenen Liebe“) ist über der Gedenkmauer für die politischen
Häftlinge und Verschwundenen der chilenischen Diktatur (Memorial de los
Detenidos Desparecidos de Chile) eingraviert. Er bekam Stipendien der
John-Simon-Guggenheim-Gedächtnis-Stiftung und des Deutschen Akademischen
Austauschdiensts (DAAD) und diverse Preise verliehen, darunter den Preis der
Fundación Pablo Neruda (1989), Pericles (Italien, 1995), Premio Municipal de
Literatura (Chile, 1995), Premio Nacional de Literatura (Chile, 2000) und
den Premio José Lezama Lima (Cuba, 2006). Bücher und Gedichte Zuritas wurden
in zwölf verschiedene Sprachen übersetzt, unter anderem ins Englische,
Deutsche, Schwedische, Portugiesische, Italienische, Russische, Türkische,
Bengalische und Chinesische. Zurzeit ist Raúl Zurita Professor für Literatur
an der Universität Diego Portales in Chile.
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Nachwort
Raúl Zurita (geb. in Santiago de Chile, 1950) zählt zu den renommiertesten
Vertretern der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur. Am 11. September
1973 wurde er als Student der Ingenieurwissenschaften an der Universidad
Federico Santa María in Valparaíso direkt nach dem Militärputsch Pinochets
verhaftet und in einem Schiff vor der Küste der gleichen Stadt mehrere Tage
unter entsetzlichen Bedingungen gefangen gehalten. Diese Erfahrung wurde zum
prägenden Trauma, die Gewalt der Diktatur zum wichtigsten historischen
Referenzpunkt von Zuritas Poesie. Sie markiert zugleich den spezifisch
chilenischen Erfahrungshorizont und damit den gesellschaftlichen
Kommunikationshintergrund, vor dem Zuritas Textwelten eine politische
Bedeutung erlangen.
Als Mitgründer der Bewegung C.A.D.A. (Colectivo de Acciones de Arte) mit
ihrem Motto ARTE ES VIDA („Kunst ist Leben“) realisierte Zurita Ende der
70er bis in die 80er Jahre zahlreiche Kunstaktionen und Projekte. Diese
erste Phase seiner Kunst ist von der provokativen Überschreitung
traditioneller Kunstformen und von einem ausgeprägten politischen Engagement
gekennzeichnet. Trotz Diktatur und Zensur entwickelt sich in diesen Jahren
in Chile ein lebhafter Austausch innerhalb der oppositionellen Kunstszene,
mit prägenden Figuren wie Juan Luis Martínez, Diamela Eltit oder Lotty
Rosenfeld. Die C.A.D.A. Bewegung macht dabei mit politischen Performances
von nie dagewesener Radikalität auf das Klima der Gewalt im Land aufmerksam.
So stellte Zurita als Zeichen seines Protestes in diesen ersten Jahren der
Diktatur Akte der Selbstverletzung aus wie die Verbrennung der linken Wange
mit einen Bügeleisen und die Verätzung der eigenen Augen mit Ammoniak. In
diesen „Überlebensaktionen“, wie der Autor sie definierte, spiegelt sich
eine tiefe existenzielle und persönliche Krise und das Bedürfnis, die
Schmerzerfahrung und Verletzbarkeit des Menschen in Zeiten der Gewalt
Ausdruck zu verleihen. Als spektakuläre Formen dieser Protestkunst wurden
insbesondere zwei Aktionen Zuritas bekannt: Die ‚Beschriftung‘ des Himmels
mit Versen des Bandes Anteparaíso, die mittels Kondensstreifen von einem
Flugzeug in den Himmel über New York gezeichnet wurden, und die gigantische
„Einschreibung“ („inscripción“) des Verses „ni pena ni miedo“ in der
Atacamawüste (aufgrund der Mehrdeutigkeit des Wortes „pena“ vielfach
übersetzbar als: „Weder Leid/Mitleid/Strafe noch Angst“) – ein Schriftzug
von solchen Ausmaßen, dass er nur aus großer Höhe vom Flugzeug aus lesbar
ist und so gleichzeitig an die Nazca-Spuren in den peruanischen Anden
erinnert. In beiden Aktionen artikuliert sich beispielhaft das die Grenzen
traditioneller Medien sprengende Potenzial, das die erste Phase seiner
Dichtung auszeichnet: Der poetische Text bricht aus der Buchseite aus und
kehrt in erneuerter Form auf diese zurück, u.a. in Form der Fotographien der
in die Landschaft der Wüste, den Himmel eingeschriebener Zeichen.
Die Landschaftsbilder der einzigartigen Geographie Chiles, die in Zuritas
Gedichten immer wieder mit eigentümlicher sprachlicher Kraft entworfen
werden, evozieren beständig die nationale Wirklichkeit als
Bezugshintergrund: die Andenkordillere, die Vulkane, die Atacamawüste, das
Valle Central (Zentraltal), die Tausende von Küstenkilometern aus Felsen,
Sand und Meer. Diese Topographien haben eine emblematische Rolle in der
Vorstellung von Nation und kollektiver Identität der Chilenen: In der
chilenischen Nationalhymne wird das Land vor allem als Naturraum imaginiert
und die Reinheit des blauen Himmels, die majestätischen weißen Berge, das
Meer als Garten Eden und als Bollwerk der Freiheit besungen. Diese
nationalmythische Bedeutung der Landschaft schwingt in Zuritas Gedichten
mit, doch die Reinheits- und Freiheitsversprechen sind hier gebrochen. Das
nationale Landschafsrelief ist in den Gedichten Zuritas durchzogen von den
Spuren der Verschwundenen und Toten. Die emblematische Geographie Chiles
verwandelt sich so in ein Mnemotop der Diktatur – eine Topographie, die an
die politische Repression erinnert: „Die Andenkordillere war zur Zeit der
chilenischen Diktatur das riesige Abbild ihres Gefängnisses: Sie wuchs um
ein 10.000faches an. Als ob das alles eine Strafkolonie gewesen wäre. Die
Andenkordillere war Symbol der Unterdrückung, der Gefangenschaft, unserer
Trennung und Isolation“, erklärt Zurita in einem Interview. Um sich der
Leichen der verschwundenen politischen Gefangenen, der desaparecidos, zu
entledigen, verstreuten Militärs und Geheimdienste deren Überreste von
Flugzeugen aus über dem Meer und den Bergen, verscharrten sie in
Massengräbern an unbekannten Orten in der Atacama-Wüste. Auf den Spuren
ihrer vermissten Familienmitglieder durchkämmen noch heute, fast vier
Jahrzehnte später, einzelne Hinterbliebene diese endlose Landschaft aus
Sand, Geröll und Salz und suchen nach menschlichen Knochenstücken. Die Suche
und die Phantasie der Wiederbegegnung mit verlorenen Weggefährten werden in
Zuritas Gedichten ständig zum Thema, ein kontinuierliches Gefühl ihres
Verlusts ist als unterschwelliger Bedeutungsstrom präsent. Immer wieder
erzählen sie vom Alpdruck der Kommunikationsunfähigkeit und Unerreichbarkeit
eines geliebten Gegenübers und führen so die psychischen Folgen der Praxis
des ‚Verschwindenlassen‘ vor Augen, die einen Abschluss und Abschied von den
Toten unmöglich machte. Zu einem stellvertretenden Ritual des Gedenkens an
die desaparecidos und des Protestes wurden die Wallfahrten zu der Kalkmine
von Lonquén – vom Lichtermeer ihrer Kerzen erzählt das vorletzte Gedicht der
Wasserstädte. Hier wurden 1978 die Leichenteile von 15 Menschen gefunden und
erstmalig seit dem Putsch Pinochets offiziell als Reste von Verschwundenen
identifiziert. Dies war der Moment, da sich die meisten Hinterbliebenen mit
der großen Wahrscheinlichkeit konfrontieren mussten, dass auch ihre
Vermissten ermordet und ‚beseitigt‘ worden waren.
In Zuritas Poesie zeigt sich ein Bedürfnis, diese Erfahrungen in die
Landschaft ‚einzugravieren‘, ihm eine materielle Offensichtlichkeit zu
verleihen und diese damit zugleich einer symbolischen Wiederaneignung zu
unterwerfen: Der Naturraum gleicht so an vielen Stellen dem menschlichen
Gesicht oder Körper, dem die Erfahrungen wie Verletzungen in die Haut
geritzt werden. Neben dem genannten Wüsten-Schriftrelief „ni pena ni miedo“
bringt eines der bekanntesten Poesie-Fragmente Zuritas diese Einschreibung
der Gewalterfahrung in den Landschaft und Körper als Form der symbolischen
Wiederaneignung auf den Punkt: der aus dem Gedicht „Canto de su amor
desaparecido“ („Lied seiner verschwundenen Liebe“) stammende Vers, der in
die Gedächtnismauer eingraviert ist, die für die Verschwundenen und
Ermordeten der Pinochet-Diktatur am Haupteingang des Hauptfriedhofs in
Santiago errichtet wurde und über 3000 Namen trägt: „Todo mi amor está aquí,
y se ha quedado: pegado a las rocas, al mar y la montaña“ („Meine ganze
Liebe ist hier und hier geblieben: in die Felsen, das Meer und den Berg
geschlagen“). Die Kraft dieser Poesie-Fragmente liegt vielleicht in einem
traurigen und zugleich tröstlichen Paradox – sie führen gewissermaßen vor
Augen, was sie beschwörend verneinen: Mit ihnen hat sich die Landschaft
dauerhaft in ein Zeichen des Schmerzes verwandelt, und doch behaupten sie
die Uneinnehmbarkeit des Naturraums als Bollwerk der Liebe, der Negation von
Angst und Leid. Gegenüber der Immensität und dem Alter der Landschaft ist
das menschliche Leid augenblickshaft und klein, so bedeutet diese für Zurita
zugleich ein Widerstand gegen die Einschreibung und ein Trostraum, dessen
urtümliche Macht in letzter Instanz von den historisch-politischen
Gewalterfahrungen unberührt bleibt. In dieser Ambivalenz bleibt auch in den
Gedichten Zuritas eine Erfüllungsverheißung von Freiheit und Liebe mit der
Landschaft verknüpft. Doch gerade in seiner kompensatorischen Funktion trägt
der schöne Traum der Erfüllung einen Verweis auf das Ausmaß der historischen
Verlust- und Schmerzerfahrung in sich, dem er als Sehnsucht entspringt.
Dies zeigt sich in den drei bekanntesten Gedichtbänden Zuritas, dem
dreiteiligen Gedichtzyklus Purgatorio („Fegefeuer“, 1979), Anteparaíso („Vorhimmel“,
1982) und La vida nueva („Das neue Leben“, 1993), der an Dantes »Divina
Commedia« anknüpft – ein für den italienischstämmigen Zurita maßgeblicher
kultureller Prätext, der schon seine Kindheitserfahrungen stark
beeinflusste. Die poetische Trilogie ist eine Aufarbeitung der Leidens- und
Hoffnungsgeschichte des chilenischen Volkes und des ganzen Landes als
„verletzter Körper“ und konstituiert sich als Ausdruck einer sozialen
Katharsis, in deren Mittelpunkt der dramatische historische Bruch in der
Kunst und im Leben Chiles durch die Diktatur steht. Diese Erschütterung
nimmt die Poesie Zuritas in ihren poetologischen Grundlagen auf, sie
markiert damit auch eine ästhetische Wende, die in mehrerer Hinsicht mit den
Traditionen der chilenischen Kunst und Literatur (repräsentiert durch große
Namen wie die Nobelpreisträger Gabriela Mistral und Pablo Neruda) bricht.
Die Sprache der Dichtung wird sich von nun an wesentlich aus dem Schmerz und
einer aus dieser Schmerzerfahrung heraus ersehnten kollektiven Utopie
speisen. Damit hat seine Dichtkunst der chilenischen Literatur der letzten
35 Jahre einen ganz neuen Impuls gegeben, der Teil einer vielgestaltigen
Erfahrung mit Diktaturen auf dem südamerikanischen Kontinent ist und gerade
deshalb weit über Chile hinausreicht. Zwar ist uns in Deutschland die
Auseinandersetzung mit dem Trauma einer Diktatur und mit dem Gedenken an
ihre Opfer natürlich wohlvertraut, doch wie Zurita mit diesem Thema umgeht,
wie er es in dichterischen Bildern gestaltet, ist einzigartig. Zurita
schafft mit einem düsteren Stoff neuartige Bilder von eigensinniger
Schönheit.
Mit der Veröffentlichung von Purgatorio erlangt Zuritas Dichtung 1979
nationale Anerkennung und einen bemerkenswerten Erfolg – paradoxerweise just
im Moment der strengsten Zensur, welche die Kultur und das öffentliche Leben
in Chile je erlebt haben. Bereits in den 1980er Jahren findet die Poesie
Zuritas – vor allem dank der Vermittlerrolle Mexikos, ein Land, in dem
Zurita von Anfang an viel gelesen und rezipiert wurde – ihren Weg in
literarische und akademische Kreise der USA, wo Zurita mittlerweile der
meistgelesene lateinamerikanische Lyriker ist. Heute gilt der Band
Purgatorio, der in seiner aufgeladenen Symbolhaftigkeit nicht leicht zu
deuten ist und dessen breiter Erfolg daher umso erstaunlicher ist, als eine
der bedeutendsten dichterischen Auseinandersetzungen mit dem kollektiven
Trauma des Landes unter seinem autoritären Regime. Er beschreitet den
poetischen Parcours eines gestörten Lebensmoments, eines scheiternden
multiplen Ichs, gezeichnet von der Realität des Autoritarismus.
Auf der Grundlage einer illusionslosen Bestandsaufnahme der von der Diktatur
erzeugten psychischen und sozialen Verwerfungen entwickelt Zurita eine
utopische und mythischen Dimension, die insbesondere auch für die Gedichte
prägend ist, die in der Zeit der sogenannten transición entstanden sind,
also jener schwierigen und konfliktgeladenen Phase des Übergangs von der
Diktatur zur Demokratie nach 1990. Unter diesen Werken, die nach der
Militärdiktatur entstanden und der politischen Übergangszeit Chiles
zuzuordnen sind, finden sich die Bände Canto de los ríos que se aman (Gesang
der liebenden Flüsse, 1997), INRI (2003), Los países muertos (Die toten
Länder, 2006), Las ciudades de agua (Die Wassertädte, 2007), In memoriam
(2007) und Cuadernos de guerra (Kriegshefte, 2009). Im Jahr 2011 erschien
sein bislang letztes und umfangreichstes Werk mit dem Titel Zurita, das der
Autor als sein abschließendes poetisches Vermächtnis begreift.
Beispielhaft für die Sehnsucht einer Transformation der Leiderfahrung in
die Utopie der ‚Wiederauferstehung‘ steht der Band La nueva vida („Das neue
Leben“), der testimoniale Formen der Zeugenschaft integriert: Mittels der
Transkription von zehn Träumen der Bewohner des Armenviertels Silva
Henríquez in Santiago findet hier – neben dem Alptraumhaften der
Vergangenheit – gerade auch der Wunsch-Traum Ausdruck in Zuritas Textwelten.
Der dokumentarische Einbezug dieser Traumerzählungen ist eine von vielen
Techniken Zuritas, eine Stimmenvielfalt zu kreieren, die für seine Poesie
charakteristisch ist. In ihr vollzieht sich der Übergang von der Stimme des
Einzelnen zur Stimme der Gemeinschaft, zur Stimme der Erniedrigten, zur
Stimme derjenigen, denen das Wort verweigert wird, zu den Verschwundenen.
Dieses poetische Verfahren setzt auf eine demokratisierende Kraft der
Dichtung, welche das mögliche kollektive Imaginäre des Landes und seine
Sehnsüchte artikuliert. Zuritas Dichtung wird so zum traumhaft verdichteten
Epos der jüngeren chilenischen Vergangenheit; ein Panorama des Schreckens
und des Infernos, das gerade in seiner dantesken Dimension verzweifelt an
der Utopie der Liebe und der Versöhnung festhält.
Die Wasserstädte
Auch in diesem Gedichtband der Ciudades de Agua – Wasserstädte öffnet sich
mit den zehn Träumen an und für Kurosawa die Tür zu einem Irrgarten der
Architekturen des Traums. Dieses Labyrinth erstreckt sich durch alle Teile
des Bandes: Es verknüpft in desorientierenden Schleifen die einzelnen
Gedichte zu einem Netz an Verweisungen, eröffnet Querverbindungen, die den
Leser an der Seite des geträumten und träumenden Ichs immer wieder aus
anderen Richtungen an Orte gelangen lässt, die sich bald darauf als bekannt
herausstellen. Dabei entsteht eine Räumlichkeit und Zeitlichkeit, die den
eigentümlichen Regeln des Wiederholungstraums zu gehorchen scheint –
geprägt von Déjà-vu-Effekten, dem erneuten Durchleben situativer
Konstellationen aus vertauschten Perspektiven, dem augenblicklichen Wissen
von der Zukunft im Ablauf einer Sequenz oder der plötzlichen Erinnerung an
einen verlorenen Fixpunkt: ein Jahr, ein Ort, eine Person. So entfaltet sich
ein Intensitätsraum, in dem sich Erträumtes und Halluziniertes,
Vergangenheit, selbstprophezeite Zukunft und gegenwärtige sensuelle
Empfindungen assoziativ überlagern und miteinander verschwimmen.
Ein Name, ein Ort und ein Jahr scheinen in den Anfangszeilen von „Mi Nombre:
Akira Kurosawa“ zunächst – ähnlich den ‚Traumdokumentationen‘ in La vida
nueva – protokollarisch ein Aussagesubjekt und eine Wirklichkeitsebene zu
etablieren, von der aus geträumt und erzählt wird. Doch sind bereits die
Ausgangskoordinaten aus der Materie des Traums gemacht. Das Ich stellt sich
mit dem Namen eines anderen vor, trägt aber deutlich autobiographische Züge:
Seine Gegenwart lässt sich mit Zuritas Berlin-Aufenthalt im Rahmen eines
DAAD-Stipendiums im Jahr 2002 identifizieren, in seiner Traumvergangenheit
finden sich Erinnerungen aus Zuritas autobiographischem Roman El día más
blanco und die Figuren seiner prekären Kindheit wieder, die seine Gedichte
immer wieder durchgeistern: allen voran die italienische Großmutter mit
ihrer Migrationsvergangenheit, deren epische Lektüren und Dante-Rezitationen
die Vorstellungswelt Rauls prägten, neben ihr die fragile, alleinstehende
Mutter, die dem Kind kaum Rückhalt bieten kann, auch die abwesende Figur des
früh verstorbenen Vaters. Die zentrale autobiographische Referenzachse ist
jedoch auch hier die Erfahrung von politischer Repression, Gefangenschaft
und Folter während des Pinochet-Regimes: Das Ich spricht von Anfang an als
Überlebender der Diktatur. Durch die beharrliche Wiederkehr bestimmter
autobiographischer Erinnerungsinhalte in Form von Selbstzitaten und
Neuschreibungen scheint es, als enthielten sich Zuritas Texte gegenseitig
und komplementierten sich gleichzeitig. Es entsteht eine Form der
Auto-Intertextualität, die die Geschlossenheit einzelner Textuniversen
aufbricht und diese dauerhaft durchlässig macht auf die Lebensrealität
Zuritas, der gleichzeitig als ‚Figur‘ entsteht.
Das traumerzählende, halluzinierende und erinnernde Ich in den Wasserstädten
ist von diesem autobiographischen Subjekt kaum zu trennen und ist dabei doch
ständig ein anderer. Von Beginn an träumt es sich in die „Träume“ des
japanischen Regisseurs Kurosawa ein und vernetzt sich dabei mit den
Bilderwelten seines bekannten Films „Yume“ („Träume“, 1990), in dem dieser
in acht Episoden seine Kindheits- und Erwachsenenträume in Szene gesetzt
hat. Kurosawas filmisches Werk wird in ‚Zurita‘ zum Sprechen gebracht, seine
Visionen werden zum ‚Stoff‘ für dessen Traumwelt und Kurosawa zugleich in
eine Figur in Zuritas Traum verwandelt. Auf diese Weise beginnt ein
intertextueller und intermedialer Überblendungs- und
Transpersonalisierungsprozess, der das Ich in Bewegung setzt und seine
Imaginationen und Erfahrungen mit denen anderer verschmelzen lässt.
Es setzt sich so eine Dynamik von Kristallisierung und Verflüssigung in
Gang, die für die Wasserstädte bestimmend bleibt. Sie steht zugleich für den
Versuch der Realitäts- und Identitätsversicherung und sein ständiges
Scheitern. So entsteht zwar ein autobiographischer Verweisungshorizont,
jedoch kein stabiler Mittelpunkt. Hier erzählt ein krisenhaftes Subjekt mit
„leerem Leben“, das in seiner Instabilität und Porosität die Erfahrungen
verschiedener Länder und Zeiten in sich aufnimmt und das „ganze Erdenrund“
und „Millionen Jahre“ über sich hereinbrechen fühlt. Diese Form der
Entgrenzung ist eng verknüpft mit Gewalt und massenhaftem Tod, in ihrem
Erleben beginnen sich in den Wasserstädten die großen kollektiven
Katastrophenereignisse mit den Schrecken der Pinochet-Diktatur zu überlagern
– allen voran der Zweite Weltkrieg und der Atombombenabwurf auf Hiroshima.
Diese sind auch die zentrale Bezugspunkte von Kurosawas Alptraumepisoden des
Überlebens in „Yume“, in denen sich die träumende Hauptfigur in
postapokalyptischen Landschaften wiederfindet – nach dem Weltkrieg, dem
Atomkrieg oder der Explosion eines Atomkraftwerks. In der Überlagerung der
Szenerien und Identitäten entsteht dabei zugleich eine Amalgam der
Generationen, Kulturen und Geschlechter: Das Ich der Wasserstädte fusioniert
unter anderem mit der japanischen Mädchen-Gestalt Yazuhiko, hinter der die
reale Person des Yasuhiko Taketa erkennbar wird – ein Überlebender des
Atombombenabwurfs von Hiroshima, der ein schockierendes Zeugnis davon
abgelegt hat, wie er als kleiner Junge auf dem Bahnhof den Einschlag der
Bombe (die den Namen „Little Boy“ trug) erlebte. Eine Bahnhofsszene, die in
den „Glanz von Millionen Sonnen“ mündet, wird in den Wasserstädten mehrfach
aus vertauschten Blickwinkeln durchlebt: aus der Bodenperspektive der
wartenden kleinen Yazuhiko (die zugleich der kleine Junge ‚Zurita‘ ist),
ihres im Zug einfahrenden Vaters (der zugleich der junge Mann Zurita und
auch Kurosawa ist) und aus der Luftperspektive des Piloten Paul (als
historische Person: Paul Tibbets – US-Air-Force-Flieger im zweiten
Weltkrieg), der die schreckliche Fracht über der Landschaft abwirft. Auch er
ist ‚Zurita‘ und so verschmilzt seine Täterschuld mit einem Gefühl der Scham
und Schuld, die das Ich aus der Perspektive des Gewaltopfers und als
Überlebender der Diktatur empfindet.
Diese Erfahrung des Überlebens spiegelt sich in den Wasserstädten in der
ständigen Wiederholung eines Aufwachens, bei dem der Träumende wie aus einer
tiefen Ohnmacht zurückkehrt und sich in eine kontextlose ‚Nachwelt‘ geworfen
sieht. Es folgen Orientierungsvorgänge und Inventuren von
Vergangenheitsresten, doch jedes Fußfassen auf dem Boden der Realität führt
zu einem erneuten freien Fall in eine nächste Traumwelt. So entsteht eine
Abgrundkonstruktion in Form einer Kette der Ersetzungen der Welten, die zur
kompletten Diskontinuierung von Raum und Zeit führt, eine Chronik des
Hinüberdämmers und der Bewusstseinsunterbrechungen, in der Momente des
Aufwachens und des Einschlafens ununterscheidbar werden. Der „Tagesanbruch“
erweist sich dabei immer wieder als „zerbrochen“, der Modus der Verfremdung
des Traums wird nicht aufgehoben. „Me saco la arena y empiezo a caminar
desde la vida“, heisst es in „Little Boy, 4“ („Ich schüttele mir den Sand ab
und beginne aus diesem Leben zu laufen“, aber auch: „Ich beginne, von diesem
Leben her zu laufen“). Für den Überlebenden erscheint das eigene Leben wie
ein Leben über den Tod hinaus, und das Gefühl des ‚(bei)nahen‘ eigenen
Todes, das immer wieder in den Gedichten erscheint, lässt sich nicht
abschütteln wie Sand.
Häufig vollzieht sich in den Wasserstädten durch Formen plötzlicher
Gewalteinwirkung ein Umschlag einer alltagsähnlichen Situation in eine
alptraumhafte Szenerie von Ohnmacht, Schmerz, Verfolgung. Dieses Umkippen
der Realität gleicht dem Erleben ständiger ‚Flashbacks‘ des traumatisierten
Subjekts, die durch kleine sensuelle Analogien zwischen gegenwärtigen und
vergangenen Situationen hervorgerufen werden. Die Wasserstädte sind so auch
eine Chronik von Retraumatisierungserlebnissen. In den Situationen des
Einbruchs der Realität lässt sich die Gewaltpraxis der chilenischen
Militärdiktatur wiedererkennen: das Abholen von Menschen aus ihren Häusern,
geheimdienstliche Verfolgung und Festnahmen, Lastwagenfahrten, Fußtritte und
Gewehrkolbenschläge. Die Höhepunkte der Schmerz- und Schockmomente fungieren
dabei wie Medien des Übertritts zwischen den Räumen und Zeiten, sie gleichen
Türen, die im Traumlabyrinth der Wasserstädte die Welten miteinander
verbinden. Es sind Entgrenzungserfahrungen im wörtlichen Sinne, in denen
sich die Barrieren zwischen Eigen- und Fremderleben, Innen und Außen
auflösen: In der Atombombenexplosion werden in einem Augenblick, in dem sich
die Haut vom Körper löst, „alle Schicksale eins“ („todos los destinos se
hacen uno“).
Diese plötzlichen Umschläge sind umso erschütternder, als sie sich in vielen
Momenten aus dem Erleben von Schönheit, Erfüllung und Glück heraus ereignen.
Die Erfahrung von Schönheit ist in den Wasserstädten oft verknüpft mit
intensiven halluzinatorischen Wahrnehmungserlebnissen von Landschaften und
Architekturen, die als Fata Morganen aus Lichtspiegelungen und Farbspielen
erscheinen: fließend, kristallen und transparent. In dieser gläsernen
Bildlichkeit werden die Glücksmomente mit dem Erleben von Zerbrechlichkeit
und Zärtlichkeit verbunden. So werden empfindliche Stellen in den
Lektüreprozess eingeführt, die eine dauerhafte ‚Immunisierung‘ des Lesers
gegen die Gewalteinbrüche verhindern und diesen umso größere
Durchschlagkraft verleihen. Sie führen zugleich jene Sehnsucht und das
utopische Versprechen in das Traumerleben ein, das immer wieder erneut
zerbricht. So führen die halluzinierten Glücksbilder der „Länder“, in denen
sich nationale Räume als kartographisch vorgestellte Territorien in
schwebende Gebilde verwandeln, zugleich die Fragilität des Subjekts vor der
‚Geschichte‘ und ‚Nation‘ vor Augen.
Die Logik des Traums, die Verflüssigung von Raum, Zeit und Identität, seine
Wiederholungs- und Heimsuchungsstruktur ist also in Zuritas Poesie zugleich
die des Traumas. Wie das Trauma setzt der Traum seiner Versprachlichung
einen Widerstand entgegen: „Quise escribirlo, pero las palabras, como
vísceras humeantes, llegaron muertas a mis dedos.“ („Ich wollte es
schreiben, aber die Worte gelangten, wie dampfende Eingeweide, tot zu meinen
Fingern.“) Im Prozess der Erzählung eines Traums geht die Realität des
Traumerlebens verloren. Der Versuch, das Geträumte in Worte zu fassen,
bedeutet zugleich eine Entzugserfahrung, eine Entfremdung gegenüber der Welt
des Traums. Die Sprache Zuritas trägt – durch den Modus der Traumerzählung –
einen ständigen Verweis auf das Scheitern des ‚Zufassenbekommens‘ und damit
auch auf die verbleibende Fremdheit der Realität des Traumas in sich. Dabei
verlieren sprachliche Formen in den Gedichten die Stabilität und die
Eindeutigkeit ihrer Bezüge. Personalpronomen werden zu Variablen, die sich
nicht mehr eindeutig füllen lassen: So wie das „Ich“ transitorisch besetzt
wird, scheint das „Du“ mancher Gedichte zwischen der Selbstansprache und
einem wechselnden Gegenüber hinüberzugleiten. Das Schwanken von
Präpositionen bringt Beziehungsverhältnisse ins Rutschen: So ist in den
Träumen an/für/von Kurosawa dieser Mal Subjekt der Traumerzählung, mal das
Gegenüber, dem das Ich versucht, eine Intensitätserfahrung zu kommunizieren.
In diesem Fluktuieren der Bedeutungen und Bezüge, das eine endgültige
Schließung des Sinns unmöglich macht, widersetzt sich Zuritas Sprache
totalitären Formen der ideologischen Festschreibung und Kontrolle der
Bedeutungen, wie sie das diktatorische Regime in Chile versuchte. Das
Durchwandern von Traum und Trauma als Randzonen der Sprache impliziert einen
ständigen Fingerzeig auf das Andere der kollektiv verbürgten Realität und
Geschichte: das nicht Sagbare und nicht Fixierbare, die nicht erinnerte,
nicht integrierte Wirklichkeit, die jederzeit die ‚Normalität‘ zum Kippen
bringen kann.
Die Orte und Räume der Wasserstädte sind Projektionsflächen emotionalen
Erlebens und Kristallationspunkte von Erinnerungen. Die Wüste als Ort, der
gedächtnislos ist und zugleich nichts vergisst, ist in Zuritas Gedichten ein
Raum des Verschwindens und der Erscheinungen: In den Wasserstädten lässt
Zurita die Salzwüste, die Berge mit ihren Vulkanen, die an den Sand- und
Steilküsten brechenden Wellen in einer eigentümlichen Plastizität entstehen
und umschlagen in Horrorreliefs aus Massen menschlicher Gliedmaßen und
Körper. Der subjektiv durchlebte Raum wird, in dimensionalen Verschiebungen
von Vorder- und Hintergrund, in bedrohlicher Enge und Weite zum Zeichen
psychotischer Wahrnehmungskrisen, die die Landschaft in einen riesenhaften
Projektionsraum psychischer Erfahrungen von Beklemmung, Angst und Ohnmacht
verwandeln.
Die nationale Erinnerungslandschaft wird in den Wasserstädten mit
Stadtbildern Santiagos, die Zuritas Kindheit entstammen, und
Katastrophen-Mnemotopen anderer Länder und Zeiten zu ‚unmöglichen‘
Geographien verwoben. Als eine Art Déjà-Vu-Gedächtnispark, zu dem das Ich in
seinen Wiederholungsträumen zurückehrt, tritt das Friedensdenkmal von
Hiroshima in Erscheinung, geprägt von dem Zusammentreffen zweier Flüsse,
einer großen Brücke und dem Denkmalgebäude mit der Atombombenkuppel. Der
Zugang zu diesen Erinnerungsorten erfolgt an vielen Stellen über die
Vermittlung durch das Medium der Fotographie oder des Films. Über die
sprachliche Evokation von Zeitungs- und Plakatfotos, Kino- und
Fernsehbildern finden kollektive Gedächtnisinhalte Eingang in die subjektive
Traumwelt und beginnen mit den individuellen Lebenserinnerungen zu
verschmelzen. Mittels solcher Intermedialitäten baut sich in Zuritas
Textwelt eine Art ‚Weltgedächtnis‘ von Katastrophenbildern auf, ein Archiv
kollektiver Alpträume, an dem wohl jeder Leser in irgendeiner Form
partizipiert. Teil davon ist z.B. der Pink-Floyd-Song Mother, der eine
Lastwagenfahrt durch die Atacama-Wüste mit einem ‚Soundtrack‘ versieht und
von Kindheitsängsten – unter anderem vor der Atombombe – erzählt („Mother,
do you think they‘ll drop the bomb?“). Teil davon sind auch die
Zeitungsbilder von Sarajevo oder Szenen aus dem Dokumentarfilm Los niños de
la guerra, der von dem Schicksal spanischer Bürgerkriegskinder in der
Sowjetunion berichtet, aber auch die Bücher der Großmutter über die
napoleonischen Kriege. In Kurosawa Film Träume findet sich in der Episode
„Krähen“ seinerseits eine Inszenierung des ‚Sich-einträumens‘ in ein Bild
als einen Moment des Über-Setzens in eine andere mediale Welt: Dort versenkt
sich die Hauptfigur in einer Ausstellung in die Ölgemälde van Goghs und
durchstreift eine Welt aus impressionistischen Strichlandschaften.
Über diese ‚globalisierten‘ medialen Bilderwelten wird der spezifisch
chilenische Erfahrungshorizont anschließbar an andere kulturelle Kontexte.
In der Frage nach dieser Anschließbarkeit ist auch das Problem der
‚Übersetzbarkeit‘ der Poesie Zuritas enthalten, bzw. nach den Widerständen,
die sie möglicherweise einem deutschen Leser entgegensetzen. Zuritas Texte
sind, darauf wurde bereits verwiesen, stark eingebettet in bestimmte
kommunikative Zusammenhänge, die die soziopolitische und historische
Realität Chiles betreffen und setzten so immer wieder ein bestimmtes
kulturelles Wissen voraus, das insbesondere die Diktatur betrifft. Der
Kommunikationskontext der Diktatur selbst, in dem Zuritas Poesie ihre
Wurzeln hat, war stark von den Regeln der politischen Zensur geprägt. Die
regimekritische Literatur machte sich daher oft Verfahren der
Mehrdeutigkeit, des Schreibens in Metaphern und Auslassungen zur Strategie
und setzte so gleichzeitig einen komplizenhaften Leser voraus, der in der
Lage war, insbesondere in Bezug auf die Realität der politischen Verfolgung
Anspielungen zu erkennen und zu entziffern. Diese Schreibweisen sind nach
wie vor in Zuritas Gedichten präsent und erschweren an einzelnen Stellen den
außenstehenden Lesern das Verständnis. Trotzdem hat unser Übersetzerteam
darauf verzichtet, die entsprechenden Stellen oder Begriffe mit Fußnoten zu
versehen, zum einen, da die ‚Enträtselung‘ ein Bestandteil der
Lektüreerfahrung von Zuritas Poesie ist, zum anderen, da zahlreiche
Bedeutungselemente der Wasserstädte jenseits dieses Detailverstehens
Erfahrungsähnlichkeiten zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen und
kulturellen Horizonten etablieren.
Denn in gewisser Hinsicht ist das Über-Setzen bereits Teil der poetischen
Struktur der Wasserstädte, insofern hier ständige Brückenschläge zwischen
den Räumen und Zeiten stattfinden. Als solche Brücken fungieren körperliche
und emotionale Grenz-Erlebnisse, die sich gerade im Prozess der
raum-zeitlichen De- und Rekontextualisierung zu einem allgemein-menschlichen
Erfahrungswissen herauskristallisieren. Die kulturelle ‚Übersetzbarkeit‘
dieser Erfahrungen wird gewissermaßen zu einer zentralen Aussage von Zuritas
Wasserstädten, oder anders gesagt: Sie werden von den Bedeutungsstrukturen
als Effekt hervorgebracht. Gerade im Bereich der Erinnerungskultur an die
kollektiven Traumata der jüngsten Geschichte hat zwischen Deutschland und
Lateinamerika bereits ein ausgiebiger kultureller Transfer stattgefunden: In
der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg einerseits
und der lateinamerikanischen Diktaturen der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts andererseits sind gemeinsame Verstehens- und
Identifikationsvoraussetzungen entstanden, die zur ‚Übersetzbarkeit‘ von
Zuritas Poesie beigetragen, und zu denen diese Übersetzung der Ciudades de
Agua wiederum beitragen kann. In diesen Transfers nimmt zugleich ein
umgekehrter Prozess seinen Lauf: Vertraute Territorien der Erinnerung werden
verfremdet und erscheinen in neuem Licht. Und schließlich scheint auch die
‚archetypische‘ Grammatik des Traums als Randzone der Sprache zwischen den
Kulturen zu vermitteln und zugleich immer schon auf eine Erfahrung der
Nicht-Übersetzbarkeit zu verweisen, denn sie impliziert bereits das Problem
des Verlustes dessen, was ‚eigentlich‘ gesagt sein sollte.
Stephanie Fleischmann
Liliana Bizama Muñoz
Berlin / Speyer, Januar 2012 |