Behrend, Hanna / Neubert-Köpsel, Isolde / Lieske, Stephan

“Rückblick aus dem Jahr 2000. Was haben Gesellschaftsutopien uns gebracht?”


[= Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft, Bd. 4] trafo verlag 1997, 158 S., ISBN 3-930412-75-6, 14,80 EUR
 

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Zum Inhalt:


In der Reihe "Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft" nehmen nun bereits seit drei Jahren ost- und west-deutsche AkademikerInnen das Wort zu den Fragen unserer Zeit.
Im nun anzukündigenden Band 4 geht es um das Vorhaben, die Diskussion durch eine Untersuchung zu fast in Vergessenheit geratenen utopischen Romanen zu bereichern. Galt noch vor einigen Jahren die Gesellschaftsutopie als unzeitgemäßes Relikt eines endlich beendeten Irrwegs, so erweist sich inzwischen auch in diesem Fall, daß Totgesagtes oft länger fortlebt, als diejenigen, die sein Ende voraussagten.
Die Arbeit von Hanna Behrend untersucht an drei historischen Bestsellern der Jahrhundertwende, inwiefern Gesellschaftsutopien Teil der “verlorenen” Zukunft sind und ob sie, neben Vergänglichem, auch “uneingelöste” Zukunft transportieren. Dieses Zukunftsträchtige ist ein Schatz – so die Autorin –, den zu heben lohnt, vorausgesetzt, die SchatzgräberInnen wissen rechten Gebrauch davon zu machen.
Gesellschaftsutopien – ob als fiktionale oder mit wissenschaftlichem Anspruch einherkommende Gebilde – stellen nach H. B. als Visionen von Zukunft Denkangebote der jeweiligen Autoren vor, die, von anderen rezipiert, verarbeitet, modifiziert, zum Bestandteil öffentlicher Debatte über aktuelle Gesellschaftsprobleme werden können. Selbstverständlich gibt es heute wie in der Vergangenheit kein einheitliches, kulturübergreifendes Zukunftsprojekt. Alle Visionen einer menschengerechten Welt werden durch  die kulturellen Traditionen und Praktiken, durch die Befindlichkeit der agierenden Subjekte in den verschiedenen Teilen der Welt relativiert. Aber gibt es darum keinen Platz für die Suche nach menschengerechteren Zuständen?
Utopische Romane wie auch Zukunftsmodelle nichtfiktionaler Art sind stets Momentaufnahmen eines Prozesses. Daher besteht zwischen Utopia und utopia-in-process, zwischen der festgehaltenen und daher vergänglichen Vision und den von AkteurInnen betriebenen aktuellen zukunftsträchtigen Vorhaben, zu denen sie durch ihre Vision inspiriert werden, kein unauflöslicher Gegensatz.
Gewiß ist die Zahl der Ausprägungen des Widerspruchs zwischen Vision und der Möglichkeit, sie in reale Veränderungen einzubringen, Legion. Daher ist jede Utopie nur eine Sammlung toter Buchstaben, sofern ihre Funktion nicht als Vermittlerin einer (beschränkten) Anzahl von Zukunftstraditionen, als Bereicherungsmoment für die eigenen, durch die spezifische Sozialisation geprägten Gedankenspiele um Zukunftsmöglichkeiten gesehen wird. Es können gefährliche tote Buchstaben sein, sofern sie als Bauplan, als Fertigprodukt für alle Zeiten, Regionen, Umstände angesehen und zur Verhinderung niemals endender Kritik und Veränderung instrumentalisiert werden.
Gesellschaftliche Veränderung hat eine spontane und eine bewußte Komponente, die in zahllosen Modifikationen ineinander übergehen. Utopien können bewußten Veränderungswillen inspirieren, der die Klarheit darüber einschließt, daß er begrenzt ist. Seine Begrenztheit ist in der beschränkten Erkenntnis- und Veränderungsmöglichkeit des einzelnen Subjekts begründet, aber auch darin, daß sich die verschiedenen Erkenntnispotenzen und Veränderungswillen zu völlig Neuem addieren.
Utopie kann somit auch dann dazu beitragen, Wandel zu antizipieren, wenn es kein Ideal zu verwirklichen gibt und das historische Subjekt, das diese Veränderungen durchführen soll, nicht in den Kategorien definiert werden kann, die bisher dafür in Anspruch genommen wurden. So ist unwahrscheinlich, daß, wie von Bellamy angenommen, die national- und sozial gesinnten Patrioten der USA dieses Subjekt sein werden; auch der Glaube William Morris’ an die Fähigkeit der Arbeiterklasse, zum historischen Subjekt zu werden, das die Welt verändern könnte, ist geschwunden. Charlotte Perkins Gilmans Vision sah in den Frauen das Subjekt der Zukunft. Die AkteurInnen, die der unaufhaltsam vor sich gehenden Transformation der heutigen Gesellschaft eine menschengerechte Richtung geben könnten, die vom weiteren Weg in die Barbarei wegführen würde, werden auf diese Weise nicht mehr zu bestimmen sein. Woher sie im Einzelfall kommen und welche Rolle klassen-, geschlechts- oder ethnische Zusammenhänge bei ihrer Vernetzung spielen könnten, läßt sich heute noch nicht vorhersagen. Sicher ist lediglich, daß es eine lineare Hoffnungsentwicklung, die sich auf eine einzige verbindliche Utopie orientiert, nicht mehr geben wird. Das Utopische ist nicht nur, wie Bloch meinte, "das im Rahmen der bestehenden Verhältnisse Unverwirklichbare". Es ist tatsächlich in der vorliegenden Gestalt prinzipiell unverwirklichbar. Dennoch ist es auch, wie Bloch an anderer Stelle sagt, das "prozessuale Noch-Nicht", das "Meinen und Intendieren, (die) Sehnsucht, Wunsch, Wille, Wachtraum, mit allen Ausmalungen des Etwas, das fehlt. Aber das Nicht äußert sich ebenso als die Unzufriedenheit mit dem ihm Gewordenen, daher ist es wie das Treibende unterhalb alles Werdens, so das Weitertreiben in der Geschichte" (Bloch, Das Prinzip Hoffnung).
Auch der Verzicht auf bisherige Vorstellungen von der Funktion von Utopie macht diese nicht überflüssig. Die Suche nach der unerledigten Zukunft wird auch im visionären Gesellschaftsmodell fündig, das Bloch als den Überschuß über die bloße Ideologie der großen progressiv wirkenden Kulturwerke und das die "Zukunft in der Vergangenheit" bezeichnet.
Im Hauptteil des Bandes wird vor allem versucht, die Kontinuität des Utopischen, dieses "Substrat des Kulturerbes", nachzuweisen in der Überzeugung, daß das Bemühen um eine menschenwürdige Zukunft AkteurInnen braucht, die sich seiner konstruktiv zu bedienen wissen. Der Band spiegelt aber auch die "postmoderne" Abkehr von der "einen wahren" Lehre wider. In ihrem Exkurs weist Isolde Neubert-Köpsel nach, daß der Verzicht auf allgemeine Gesellschaftsentwürfe nicht das Ende der Utopie einläutet und daß auch postmoderne Einsichten Visionen von einer besseren Welt transportieren können. Widerspruch dazu erhebt im zweiten Exkurs Stephan Lieske. Er befürchtet, daß Utopie, die kein Ideal und kein Subjekt zur Verwirklichung des Ideals mehr hat, auch keinen Wandel antizipieren kann und seine mobilisierende Wirkung verlieren muß.
Die mündigen LeserInnen mögen sich ihre Meinung bilden.
 

Inhaltsverzeichnis:
Editorial
Rückblick aus dem Jahr 2000 – Was haben Gesellschaftsutopien uns gebracht?
• Utopien und Dystopien
• Gesellschaftlicher Ort der Utopie
• Die Zerstörung der utopischen Gesellschaftsvisionen durch ihr Zerrbild
• Was utopische Gesellschaftsmodelle nicht leisten können
• Was nützen uns die Hoffnungen der Vergangenheit?

Edward Bellamys Amerikanischer Gegentraum
• Ein Amerikaner der Rekonstruktionsperiode
• Bellamys politische und literarische Entwicklung
• Looking Backward – ein Roman zwischen Utopie und Dystopie
• Die Armee der Werktätigen
• Der Platz der Frauen in der Theorie
• Die Frauengestalten in Looking Backward
• Geschlechterverhältnisse  und Gesellschaftstheorie

William Morris' Anti-Bellamy
• Der lange Weg zum Sozialisten
• Morris und die englische Arbeiterbewegung
• Die Spezifik der künstlerischen Umsetzung in News from Nowhere
• Morris' Hauptanliegen in News from Nowhere
• Die Subsistenzwirtschaft in News from Nowhere
• Kultur in Utopia
• Kritik an Utopia in News from Nowhere
• Die Geschlechterverhältnisse in News from Nowhere. Morris' patriarchale Ambivalenz
• Morris' utopische Arbeitsgesellschaft
• Das Verhältnis von Stadt und Land, von körperlicher und geistiger Arbeit
• Morris in der marxistischen Kritik
• Wozu sollen wir heute Morris' Roman lesen?

Utopia aus der Sicht einer Frau: Charlotte Perkins Gilmans Herland
• Eine amerikanische Frauenrechtlerin
• Amerikanische Frauenbewegung im 19. Jahrhundert
• Gilmans weltanschauliches Credo: Women and Economics
• Gilmans fiktionales Werk
• The Yellow Wallpaper – ein moderner feministischer Klassiker
• Gilmans Utopien
• Herland, ein Frauenparadies?

Das Gemeinsame und das Besondere der drei Utopien

Exkurse

Die Bedeutung postmoderner Theorieaspekte in der feministischen/weiblichen Utopiedebatte
Von Isolde Neubert-Köpsel

Einige Notizen zu Ernst Blochs Utopie-Konzept
Von Stephan Lieske