[= Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft, Bd. 4] trafo verlag
1997, 158 S., ISBN 3-930412-75-6, 14,80 EUR
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In der Reihe "Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft" nehmen nun
bereits seit drei Jahren ost- und west-deutsche AkademikerInnen das Wort
zu den Fragen unserer Zeit.
Im nun anzukündigenden Band 4 geht es um das Vorhaben, die Diskussion
durch eine Untersuchung zu fast in Vergessenheit geratenen utopischen Romanen
zu bereichern. Galt noch vor einigen Jahren die Gesellschaftsutopie als
unzeitgemäßes Relikt eines endlich beendeten Irrwegs, so erweist
sich inzwischen auch in diesem Fall, daß Totgesagtes oft länger
fortlebt, als diejenigen, die sein Ende voraussagten.
Die Arbeit von Hanna Behrend untersucht an drei historischen Bestsellern
der Jahrhundertwende, inwiefern Gesellschaftsutopien Teil der “verlorenen”
Zukunft sind und ob sie, neben Vergänglichem, auch “uneingelöste”
Zukunft transportieren. Dieses Zukunftsträchtige ist ein Schatz –
so die Autorin –, den zu heben lohnt, vorausgesetzt, die SchatzgräberInnen
wissen rechten Gebrauch davon zu machen.
Gesellschaftsutopien – ob als fiktionale oder mit wissenschaftlichem
Anspruch einherkommende Gebilde – stellen nach H. B. als Visionen von Zukunft
Denkangebote der jeweiligen Autoren vor, die, von anderen rezipiert, verarbeitet,
modifiziert, zum Bestandteil öffentlicher Debatte über aktuelle
Gesellschaftsprobleme werden können. Selbstverständlich gibt
es heute wie in der Vergangenheit kein einheitliches, kulturübergreifendes
Zukunftsprojekt. Alle Visionen einer menschengerechten Welt werden durch
die kulturellen Traditionen und Praktiken, durch die Befindlichkeit der
agierenden Subjekte in den verschiedenen Teilen der Welt relativiert. Aber
gibt es darum keinen Platz für die Suche nach menschengerechteren
Zuständen?
Utopische Romane wie auch Zukunftsmodelle nichtfiktionaler Art sind
stets Momentaufnahmen eines Prozesses. Daher besteht zwischen Utopia und
utopia-in-process, zwischen der festgehaltenen und daher vergänglichen
Vision und den von AkteurInnen betriebenen aktuellen zukunftsträchtigen
Vorhaben, zu denen sie durch ihre Vision inspiriert werden, kein unauflöslicher
Gegensatz.
Gewiß ist die Zahl der Ausprägungen des Widerspruchs zwischen
Vision und der Möglichkeit, sie in reale Veränderungen einzubringen,
Legion. Daher ist jede Utopie nur eine Sammlung toter Buchstaben, sofern
ihre Funktion nicht als Vermittlerin einer (beschränkten) Anzahl von
Zukunftstraditionen, als Bereicherungsmoment für die eigenen, durch
die spezifische Sozialisation geprägten Gedankenspiele um Zukunftsmöglichkeiten
gesehen wird. Es können gefährliche tote Buchstaben sein, sofern
sie als Bauplan, als Fertigprodukt für alle Zeiten, Regionen, Umstände
angesehen und zur Verhinderung niemals endender Kritik und Veränderung
instrumentalisiert werden.
Gesellschaftliche Veränderung hat eine spontane und eine bewußte
Komponente, die in zahllosen Modifikationen ineinander übergehen.
Utopien können bewußten Veränderungswillen inspirieren,
der die Klarheit darüber einschließt, daß er begrenzt
ist. Seine Begrenztheit ist in der beschränkten Erkenntnis- und Veränderungsmöglichkeit
des einzelnen Subjekts begründet, aber auch darin, daß sich
die verschiedenen Erkenntnispotenzen und Veränderungswillen zu völlig
Neuem addieren.
Utopie kann somit auch dann dazu beitragen, Wandel zu antizipieren,
wenn es kein Ideal zu verwirklichen gibt und das historische Subjekt, das
diese Veränderungen durchführen soll, nicht in den Kategorien
definiert werden kann, die bisher dafür in Anspruch genommen wurden.
So ist unwahrscheinlich, daß, wie von Bellamy angenommen, die national-
und sozial gesinnten Patrioten der USA dieses Subjekt sein werden; auch
der Glaube William Morris’ an die Fähigkeit der Arbeiterklasse, zum
historischen Subjekt zu werden, das die Welt verändern könnte,
ist geschwunden. Charlotte Perkins Gilmans Vision sah in den Frauen das
Subjekt der Zukunft. Die AkteurInnen, die der unaufhaltsam vor sich gehenden
Transformation der heutigen Gesellschaft eine menschengerechte Richtung
geben könnten, die vom weiteren Weg in die Barbarei wegführen
würde, werden auf diese Weise nicht mehr zu bestimmen sein. Woher
sie im Einzelfall kommen und welche Rolle klassen-, geschlechts- oder ethnische
Zusammenhänge bei ihrer Vernetzung spielen könnten, läßt
sich heute noch nicht vorhersagen. Sicher ist lediglich, daß es eine
lineare Hoffnungsentwicklung, die sich auf eine einzige verbindliche Utopie
orientiert, nicht mehr geben wird. Das Utopische ist nicht nur, wie Bloch
meinte, "das im Rahmen der bestehenden Verhältnisse Unverwirklichbare".
Es ist tatsächlich in der vorliegenden Gestalt prinzipiell unverwirklichbar.
Dennoch ist es auch, wie Bloch an anderer Stelle sagt, das "prozessuale
Noch-Nicht", das "Meinen und Intendieren, (die) Sehnsucht, Wunsch, Wille,
Wachtraum, mit allen Ausmalungen des Etwas, das fehlt. Aber das Nicht äußert
sich ebenso als die Unzufriedenheit mit dem ihm Gewordenen, daher ist es
wie das Treibende unterhalb alles Werdens, so das Weitertreiben in der
Geschichte" (Bloch, Das Prinzip Hoffnung).
Auch der Verzicht auf bisherige Vorstellungen von der Funktion von
Utopie macht diese nicht überflüssig. Die Suche nach der unerledigten
Zukunft wird auch im visionären Gesellschaftsmodell fündig, das
Bloch als den Überschuß über die bloße Ideologie
der großen progressiv wirkenden Kulturwerke und das die "Zukunft
in der Vergangenheit" bezeichnet.
Im Hauptteil des Bandes wird vor allem versucht, die Kontinuität
des Utopischen, dieses "Substrat des Kulturerbes", nachzuweisen in der
Überzeugung, daß das Bemühen um eine menschenwürdige
Zukunft AkteurInnen braucht, die sich seiner konstruktiv zu bedienen wissen.
Der Band spiegelt aber auch die "postmoderne" Abkehr von der "einen wahren"
Lehre wider. In ihrem Exkurs weist Isolde Neubert-Köpsel nach, daß
der Verzicht auf allgemeine Gesellschaftsentwürfe nicht das Ende der
Utopie einläutet und daß auch postmoderne Einsichten Visionen
von einer besseren Welt transportieren können. Widerspruch dazu erhebt
im zweiten Exkurs Stephan Lieske. Er befürchtet, daß Utopie,
die kein Ideal und kein Subjekt zur Verwirklichung des Ideals mehr hat,
auch keinen Wandel antizipieren kann und seine mobilisierende Wirkung verlieren
muß.
Die mündigen LeserInnen mögen sich ihre Meinung bilden.
Inhaltsverzeichnis:
Editorial
Rückblick aus dem Jahr 2000 – Was haben Gesellschaftsutopien uns
gebracht?
• Utopien und Dystopien
• Gesellschaftlicher Ort der Utopie
• Die Zerstörung der utopischen Gesellschaftsvisionen durch ihr
Zerrbild
• Was utopische Gesellschaftsmodelle nicht leisten können
• Was nützen uns die Hoffnungen der Vergangenheit?
Edward Bellamys Amerikanischer Gegentraum
• Ein Amerikaner der Rekonstruktionsperiode
• Bellamys politische und literarische Entwicklung
• Looking Backward – ein Roman zwischen Utopie und Dystopie
• Die Armee der Werktätigen
• Der Platz der Frauen in der Theorie
• Die Frauengestalten in Looking Backward
• Geschlechterverhältnisse und Gesellschaftstheorie
William Morris' Anti-Bellamy
• Der lange Weg zum Sozialisten
• Morris und die englische Arbeiterbewegung
• Die Spezifik der künstlerischen Umsetzung in News from Nowhere
• Morris' Hauptanliegen in News from Nowhere
• Die Subsistenzwirtschaft in News from Nowhere
• Kultur in Utopia
• Kritik an Utopia in News from Nowhere
• Die Geschlechterverhältnisse in News from Nowhere. Morris' patriarchale
Ambivalenz
• Morris' utopische Arbeitsgesellschaft
• Das Verhältnis von Stadt und Land, von körperlicher und
geistiger Arbeit
• Morris in der marxistischen Kritik
• Wozu sollen wir heute Morris' Roman lesen?
Utopia aus der Sicht einer Frau: Charlotte Perkins Gilmans Herland
• Eine amerikanische Frauenrechtlerin
• Amerikanische Frauenbewegung im 19. Jahrhundert
• Gilmans weltanschauliches Credo: Women and Economics
• Gilmans fiktionales Werk
• The Yellow Wallpaper – ein moderner feministischer Klassiker
• Gilmans Utopien
• Herland, ein Frauenparadies?
Das Gemeinsame und das Besondere der drei Utopien
Exkurse
Die Bedeutung postmoderner Theorieaspekte in der feministischen/weiblichen
Utopiedebatte
Von Isolde Neubert-Köpsel
Einige Notizen zu Ernst Blochs Utopie-Konzept
Von Stephan Lieske