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Gerd Bedszent

Meuterei vor Troja. Die Schilderung eines Krieges, der sich vielleicht genau so zugetragen hat

historischer Roman, mit einem Nachwort von Robert Kurz, trafo verlag 2005, Tb, 249 S., ISBN (10) 3-89626-478-8, ISBN (13) 978-3-89626-478-7, 17,80 EUR

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Rezensionen

Der trojanische Krieg findet statt. Er findet doch statt...

Vor den Mauern der Stadt haben die Griechen ein Heerlager errichtet. Darin geht die Seuche um, die Krieger hungern, die Verwundeten krepieren dem Arzt Machaon unter den Händen. Einer der griechischen Krieger, Thersites, spürt, daß andere den schmutzigen Krieg ebenso satt haben wie er selbst. Als Achills Myrmidonen sich vom griechischen Heer unter dem Großfürsten Agamemnon lossagen, nutzt er die Gelegenheit – ein paar Dutzend Männer besetzen das große Ausfalltor in Richtung Troja: Jetzt sind sie Herren der strategischen Lage, können über Krieg und Frieden bestimmen!

Sie wollen den Frieden, sie wollen nach Hause. 

In diesen drei Tagen, in denen das Schicksal des großen griechischen Heeres und der großen Stadt Troja auf der Kippe steht, begegnen einander sehr unterschiedliche Menschen: Thersites, der Berufssöldner, der den Krieg hassen lernt, nachdem er durch ihn die eigene Familie verlor, der kleine Arzt Machaon, dessen Leben aus der Sorge um andere besteht, der alte Sänger Hippolochos, der, obwohl blind, weiter sieht als jeder andere, der junge Fürstensohn Adrastos, den der Tod des älteren Bruders jäh in die Verantwortung zwingt, und ein Junge, der noch nicht einmal einen Namen hat – der genau beobachtet und alles, was er sieht, in Erinnerung behalten wird...

 

Nachwort

Es gibt nicht sehr oft kunstvolle Romane, die man auf mehreren Ebenen lesen kann, weil sie einerseits eine spannende Geschichte erzählen und andererseits eine philosophische oder historische Reflexion enthalten. Versuche dieser Art sind keine Spezialität der Postmoderne, denn schon paradigmatische Werke des 18. Jahrhunderts wie "Robinson Crusoe" oder "Gullivers Reisen" sind immer gleichzeitig Abenteuerliteratur für Leser "von 8 bis 80" und Auseinandersetzungen mit dem philosophischen Zeitgeist gewesen.

Meistens geht aber ein solcher Versuch schief. Dann ist entweder die Geschichte nicht spannend oder die zweite Ebene der Reflexion bleibt allzu aufgesetzt und der Erzählung fremd; fast wie eine Werbe- oder Propaganda-Einblendung. Man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Im vorliegenden Fall ist der Versuch jedoch gelungen. Die erzählten Abenteuer lassen nichts zu wünschen übrig; Geheimnisse und deren Enthüllung kommen ebenso vor wie grandiose Schauplätze, wogende Schlachtszenen und dramatische Fluchten durch unterirdische Verliese. Auch Jugendliche können das mit roten Ohren lesen, zumal Kinder und Halbwüchsige zu den Helden der Geschichte gehören. Die reflexive Ebene ist nicht lehrhaft-langweilig angehängt, sondern sie bildet sich aus dem Fluß des Geschehens selbst, mit dem sie verwoben bleibt. Und gerade deshalb kann die kritische Reflexion nicht so leicht abgewiesen werden. Sie stört nicht, sondern sie ergibt sich zwingend aus der Sache selbst.

Es tut weder der Spannung noch dem geschichtskritisch-philosophischen Aspekt Abbruch, daß eine uralte, längst bekannte und tausendmal repetierte Geschichte erzählt wird: nämlich der Trojanische Krieg. In der Kunst überhaupt ist ja weniger das Neue schlechthin das Belebende, sondern die neue, vielleicht verstörende Sicht auf das, was man seit Kindertagen als scheinbar festen Wissens- und Imaginationsbestand mit sich herumschleppt.

Und in diesem Sinne ist der Roman so etwas wie ein Schlag ins Gesicht der klassischen bürgerlichen Bildung. Sämtliche aus der Ilias und aus antiken Sagen vertrauten Großhelden erscheinen als Großmäuler, Feiglinge und Verbrecher. Achilles ist ein brutaler Söldnerführer der halbwilden Myrmidonen; Odysseus ein hinterfotziges, intrigantes und skrupelloses Schwein; und Menelaos ein krummbeiniges, lächerliches und ziegenbärtiges Männchen, dessen Truppe im griechischen Heer spöttisch "die Ziegenherde" genannt wird. Der Fürst Agamemnon läßt seinen heiseren Trinkerbaß erschallen und blickt grundsätzlich nicht durch. Hektor auf der Gegenseite, ein berüchtigter Schläger, ähnelt auf fatale Weise Udei, dem Sohn Saddam Husseins. Und der sagenhafte Held Jason auf der Suche nach dem goldenen Vlies entpuppt sich als schwabbelig-fetter Mordbrenner und Sklavenhändler. Ein blinder Sänger kommt zwar vor, aber er ist ganz und gar kein Chefpropagandist der herrschenden Heldenmoral.

Nichts für den gewöhnlichen Feld-, Wald- und Wiesen-Oberstudienrat also. Die bloße Ahnung, daß es so vielleicht wirklich gewesen sein könnte, dementiert nicht allein die Bildungstradition, sondern auch die Rede von der bis in jene Zeiten zurückreichenden abendländischen Zivilisation, die zum Beispiel gegen die "asiatische Barbarei" verteidigt werden müsse. Ein solches geschichtsideologisches Denken kann keine Glaubwürdigkeit mehr beanspruchen, wenn sich schon die mythologisierten Ursprünge jener gefeierten westlichen Welt als eine einzige Abfolge von Untaten just aus Asien eingewanderter patriarchalischer Killerhorden erweisen. Und so ist es weitergegangen; bis zum westlichen Krisenkolonialismus unserer Tage, der sich mit seiner Selbstlegitimation auch auf jenes Griechentum beruft, dessen "blühende Landschaften" der mythologischen Verklärung, die schon in der klassischen Antike Schulbuchlektüre geworden war, hier mit wenigen Pinselstrichen in eine Art cloaca maxima verwandelt werden – und zwar nicht nur metaphorisch, sondern auch buchstäblich, was den Zustand des Heerlagers angeht. Die Helden stinken, damals wie heute. Die Resultate haben sich nicht vom Ursprung entfernt, sondern sie machen ihn kenntlich; und umgekehrt macht die Kenntlichkeit des Ursprungs die Resultate verständlich.

Zwangsläufig ist dieses Buch also auch ein Antikriegsbuch. Bis auf jene einzige Stelle, wo der mittels Steinigung hingerichtete Palamedes etwas unglaubwürdig als letztes Wort nach "Frieden" ruft und plötzlich ein Zipfel des modernen Begriffsdenkens hervorlugt, geht es aber durchwegs nicht um einen abstrakten Pazifismus als Ideologie. Vielmehr ist es eine aus den geschilderten Verhältnissen selbst sich entwickelnde konkrete Kriegsmüdigkeit, in der wie nebenbei die niedrigen räuberischen Motive der offiziellen Führungsgestalten und die Struktur eines in den sinnlosen Gemetzeln als obsolet sich erweisenden Herrschaftsgefüges vorgeführt werden. Es sind hartgesottene, narbenbedeckte Krieger, die sich da ganz und gar unpazifistisch zu den streng bewachten Schiffen durchkämpfen, weil sie restlos "die Schnauze voll" haben und vom Schauplatz des Heroismus nur noch weg wollen. Als folgerichtiger Kontrapunkt zur überlieferten Ilias ist es der häßliche, bucklige Thersites, der zum Antihelden des EXIT aus der falschen Geschichte wird. Unmittelbar geht es darum, sich von einem Schauplatz abzusetzen, an dem man nichts mehr als das Leben zu verlieren hat im Namen von Idealen, deren Repräsentanz sich durchaus immanent als grauenhafte Farce enthüllt. Auf der zweiten Ebene aber wird die Flucht zur Metapher für den EXIT aus der bestehenden in eine andere Welt, wie sie in noch unklaren Konturen Thersites bis zuletzt vor Augen hat.

Wie ist es wirklich gewesen? Der historische Roman wandelt stets einen schmalen Grat zwischen anachronistischer Rückprojektion modernen Bewußtseins und einer Radikal-Exotisierung jener Menschen einer versunkenen Zeit, in die wir uns nicht mehr wirklich hineinversetzen können. Fast immer sind es die geballten Anachronismen, die dem halbwegs kundigen Leser die üblichen Historienschinken ungenießbar machen. Es spricht für dieses Buch, daß man darin in diesem Sinne nur wenig fündig wird. Der Realismus des Alltags und der inneren Empfindungen ist glaubwürdig; und wenn dem Leser die ewig wiederkehrenden Schlächtereien über werden, dann reflektiert sich dies in den Gestalten der Geschichte selber. Obwohl der klassizistische bürgerliche Idealismus eines Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der die antike Formenwelt als "edle Einfalt und stille Größe" dargestellt hatte, längst widerlegt ist, spukt der Topos implizit noch immer in den Schulbüchern. Er paßt einfach zu gut zur Ideologie von der wunderbaren westlichen Zivilisation. In Wirklichkeit waren die so formstrengen Statuen grellbunt bemalt, wie wir inzwischen wissen; und auch die Heroen mußten pinkeln gehen. Die Farben des Alltags dementieren den Schein einer Idealität, die stets nur auf die Selbstrechtfertigung der selber noch barbarischen Moderne verweist. Der Gedanke des Thersites, "herauszukommen" aus dieser bis heute andauernden "Vorgeschichte" im Marxschen Sinne, ist noch immer nicht eingelöst.

Die Nähe des zeitfernen Alltags hat den Autor dennoch nicht dazu verführt, die Geschichte in einer abstrakten Zeitlosigkeit aufgehen zu lassen. In den mythischen Gesängen, die Zäsuren des Buches bilden und in denen die reale Personage der Handlung sich durchaus raffiniert spiegelt, macht sich ein "Problembewußtsein" geltend, das sich ganz anders artikuliert als das unsere. Daß der Mythos auch den sozialen Gegensatz in den übergreifenden Formen eines anderen Weltverständnisses enthält, wird ohne gelehrte Erklärung überraschend daran deutlich, daß bestimmte Gesänge als unliebsam gelten oder sogar verfolgt werden. Im Fremden wird so auch in dieser Hinsicht das Eigene gespiegelt, denn in den Sprachregelungen eines herrschenden Fetischismus ist auch das moderne Bewußtsein gefangen. Der Thersites dieser Geschichte hat uns immer noch mehr zu sagen, als der abendländische Bildungskanon es wahrhaben will.

Robert Kurz