Mannschatz, Eberhard

“Jugendhilfe in der DDR. Autobiographische Skizzen aus meinem Berufsleben” 

2002, 239 S., zahlr. Abb., ISBN 3-89626-380-3, 24,80 €

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Eberhard Mannschatz bei Wikipedia 

Inhaltsverzeichnis

 

Vorbemerkung

1.   Jahrgang 1927

            Herkunft aus der Flakhelfer-Generation

            Kindheit

   Turbulenter Übergang zum zweiten Leben

2.   Berufstätigkeit im Dunstkreis der Jugendhilfe

            Daten zur beruflichen Entwicklung

            Jugendhilfepolitik im Eigenbau

            Administration und Wissenschaft

            Einsame Spitze

            Der lange Weg zu Makarenko

3. Politische Erfahrungen

            Atmosphärisches Umfeld meiner politischen Entwicklung

            Parteierfahrungen

            Mein Weg zum und mit dem Marxismus

4. Persönliche Verantwortung zwischen konstruktiven Entscheidungen, Zurückhaltung

    und Fehlern

            Widerspiegelung in den Sachentscheidungen

            Bilanz

5.   Das dritte Leben

            Die Rolle bleibt, aber sie wird von anderen anders gesehen

            Durchgangsstadien der Selbstvergewisserung

            Politische Verortung

    Ende der Vorstellung (Zwischenstück)

6.   Mein Umgang mit den Welträtseln

7. Mit Abstand gelesen - Literaturrecherche

   Selbstbild als Legende? (Schlußstück)

Verzeichnis der Veröffentlichungen

Namensliste der Doktoranden

 

 

Leseprobe

 

Vorbemerkung

 

Wir schreiben heute den 23. 05. 2001; Mittwoch vor Himmelfahrt. Ein ganz gewöhnliches Datum, wenn ich es von meiner Schreibtischperspektive aus betrachte. Zum Beispiel ist gerade mit der Post die erfreuliche Mitteilung eingegangen, daß nach mehrjähriger Bearbeitungszeit nun endlich das "Handbuch der Jugendsozialarbeit" in den Buchhandel gelangt; mit meinem Beitrag, den ich auf Bitte von Prof. Münchmeyer von der FU verfaßt hatte; natürlich mit dem Titel "Jugendsozialarbeit in der DDR", ein Zuschnitt des Themas, der mir nach Meinung der Fachwelt auf den Leib geschneidert sein soll. Ich werde als Mitautor ein Exemplar kostenlos erhalten; erfreulich bei dem angekündigten Ladenpreis von stolzen 120.- DM.

Gestern habe ich an Timm Kunstreich nach Hamburg geschrieben mit der Anfrage und Bitte, ob er mir hinsichtlich einer Veröffentlichung meines Manuskriptes "Gemeinsame Aufgaben­bewältigung als Medium sozialpädagogischer Tätigkeit - Denkanstöße für die Wiedergewin­nung des Pädagogischen aus der Makarenko-Rezeption" behilflich sein kann; nachdem vor Tagen der Juventa-Verlag bedauerte, daß "wir gegenwärtig den Markt nicht für aufnahmefä­hig halten, um eine solche Publikation angemessen verbreiten zu können". Das war zu er­warten, denn wer interessiert sich schon heute und hier für Makarenko und begibt sich damit in die Gefahr, vom mainstream abzuweichen. Das haben die Damen und Herren des Verlages schon richtig einge­schätzt. Aber ich werde hartnäckig bleiben.

Vor wenigen Tagen hat mich Frau Prof. Berndt von der FHS Berlin gleich hier um die Ecke in Hellersdorf besucht, um mir persönlich die Einladung zu ihrem Kongreß "Die Folgen der 'Heimkampagne' von 1969 für die Praxis und Theorie der Sozialarbeit" zu überbringen; auf dem ich am 1. 07. 01 an der Podiumsdiskussion teilnehmen soll.

Gestern habe ich mich mit Bernd Seidenstücker getroffen, zu einem in Abständen stattfinden­den Plausch über Gott und die Welt, insbesondere über Jugendhilfe und Sozialpädagogik heute und hier.

In die Korrespondenz-Mappe habe ich heute abgeheftet ein E-mail an die AG Bildungspolitik der PDS von einem (mir unbekannten) Internet-Teilnehmer, der herausgefunden haben will, daß ich als bildungspolitischer Berater dieser Partei tätig wäre. "Wissen Sie auch, daß Herr Mannschatz verantwortlich ist für den ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, dessen Errichtung und für die damaligen Zustände dort? Wenn ja, dann wundern Sie sich nicht, daß Sie in nächster Zukunft aus diesem Grunde erheblichen Gegenwind bekommen ... Dieser Mann gehört 'abgewickelt'!!! Für mich ist er ein Verbrecher!!!"

Vergangenen Sonnabend haben Jutta und ich das Bundesarchiv in Westberlin aufgesucht, am bundesweiten "Tag der offenen Tür" der Archive. Wir begleiteten Doris Krebs, mit der das Bundesarchiv wegen einiger Nachlaßpapiere von Bernhard Krebs in Verbindung getreten war. Herr Müller, der offenbar in dieser Institution unter anderem die Volksbildung in der DDR, die Jugendhilfe sowie nachgeordnete Dienststellen (und damit auch das Institut für Jugendhilfe) verwaltet, und der mich vor Jahren bereits auf einer Tagung kennengelernt hatte, zeigte sich unumwun­den interessiert auch an meinem Nachlaß. Das ist etwas makaber, da ich ja noch lebe; aber immerhin auch interessant für mich angesichts meines Entschlusses, im Fall der Fälle meine Asche anonym auf der Grünen Wiese ablegen zu lassen. Ein Weg ist aufgezeigt, daß geistige Produkte von mir auch außerhalb von verfügbaren Veröffentlichungen der Nachwelt erhalten bleiben; und zwar unter höchstoffizieller bundesstaatlicher Verwaltung. Das ist doch etwas!

 

Ein ganz gewöhnlicher Tag also, dieser 23.05.01; abgesehen vielleicht von der erwähnten Dro­hung, die mir in solcher Form in zehn Jahren nicht untergekommen ist; und auch abgesehen von dem Interesse an meinem Nachlaß, das mir gegenüber auch noch nicht bekundet worden war.

Und doch will ich dieses Datum als eine Zäsur einstufen; insofern nämlich, als ich an diesem Tag die ersten Sätze niederschreibe von einem Text, den ich mir nunmehr vor­genommen habe. Den Titel habe ich schon: "In eigener Sache". Die Zäsur betrifft die Lebensentscheidung, mich zehn Jahre nach Emeritierung und politischer Wende nun selbst in den Ruhestand zu versetzen. Zwar beziehe ich schon seit 1991 Rente, aber "Pensionär" war ich nicht. Ich habe intensiv weiter wissenschaftlich gearbeitet und bin damit auch an die Öffentlichkeit getreten. Die politischen Umstände und meine persönliche Situation innnerhalb dieser Umstände ließen mir keine andere Wahl; und andererseits eröff­neten sie mir diese Möglichkeit, die ich im Grunde gern wahrgenommen habe. Im Ergebnis kann ich auf zahlreiche Veranstaltungen und etwa 35 Veröffentlichungen zurückblicken.

Nun aber will ich diese quasi-berufliche Tätigkeit beenden. Nüchterne Feststellung: Über Jugendhilfe in der DDR habe ich gesagt und geschrieben, was zu sagen war. Das Meinige habe ich getan. Es wird lang­weilig, sich zu wiederholen. Außerdem interessiert sich kein Schwein mehr dafür. Die Sache ist gelaufen. Einer anderen, vorsichtig ins Auge zu fassender Möglichkeit, nämlich der konstruktiven Einbeziehung von Teilen meiner weiterentwickelten Denkansätze in die heutige Diskussion über Sozialpädagogik, steht der Zeitgeist entgegen. Vielleicht wird es irgendwann geschehen; wer weiß; zumal ich den krisenhaften Zustand der Sozialpädagogik in dieser Bundesrepublik heute bedenke, der sie bald nach jedem Strohhalm wird greifen lassen. Aber das wird noch dauern. Dafür habe ich gewissermaßen auf Vorrat oder auf Halde produziert. Das erwähnte Manu­skript liegt bereit. Irgendwer wird es vielleicht einmal auffinden; gedruckt oder im Nachlaß.

Und ich spüre auch, daß die Kräfte nachlassen. Ich bin diesen Anspannungen immer weniger gewachsen.

Ich versetze mich also in den Ruhestand; wohlverdient, wie ich meine. Das kann für mich aber nicht bedeuten, gedankliche und schriftliche Arbeit aufzugeben. Ich weiß, daß es mir nicht genügt, nur in der Sonne zu sitzen, mich über Tagespolitik zu ärgern, Preisvergleiche zwischen Aldi und Real vorzunehmen und Keyboard zu spielen. Ich muß denken und auf­schreiben; ohne das scheint es nicht zu gehen bei mir. Also besteht der optimale Ausweg darin, "in eigener Sache" zu reflektieren und geduldiges Papier mit Schriftzeichen zu bedec­ken. Ich bin beeindruckt von dieser "genialen" Lösung, die mir eingefallen ist.

 

Wird mir das Vorhaben gelingen? Schwierigkeiten sehe ich auf zwei Ebenen; aber ich bin wild entschlos­sen, sie zu meistern. Da ist zunächst die Entscheidung, wirklich aufzuhören mit öffentlicher Wirkung; also meinen Bauchladen endgültig zuzumachen; mich zurückzuziehen, Aufforde­rungen abzulehnen, mich herauszuhalten auch dann und dort, wo es mich juckt, meinen Senf dazu zu geben. Das erfordert eine haltungsmäßige Umstellung, die ich mir im eigenen Inter­esse zumute und auch zutraue. Möglichen Rückfällen hoffe ich zu widerstehen über gestei­gerte Aktivität für mein Vorhaben "In eigener Sache". Was danach kommt, wird sich finden.

Und da ist zweitens dieses Vorhaben selbst. Wird mir Selbstverständigung und Selbstverge­wisserung gelingen? Oder strebe ich unbewußt doch an, Weisheiten zu hinterlassen einer Nachwelt, von der ich mir einrede, daß sie interessiert wäre? Werde ich der Gefahr entgehen, mich zu wichtig zu nehmen? Werde ich klammheimlich eine Legende aufbauen von meiner Person und meinem Wirken? Ich weiß schon jetzt, daß mir die mit der Abwendung dieser Gefahr abgeforderte Objektivität nur bedingt gelingen wird. Vielleicht könnte die letzte Ehrlichkeit ausbleiben, indem ich manches vor mir und anderen unter dem Teppich halte; gar nicht als bewußte Täuschung, sondern aus menschlichem Selbsterhaltungstrieb. In allen Autobiographien, die ich in letzter Zeit gelesen habe, ist mir das entgegengetreten. Ich werde nicht besser sein als diese Autoren.

Um die Gefahr abzumildern, schreibe ich keine Autobiographie. Dafür wäre mein Leben auch zu wenig bemerkenswert. Ich lege vielmehr "Skizzen" vor. Ich will mir erstens einmal die Zeit nehmen, meine Ver­öffentlichungen seit 1950 geduldig durchzusehen und zu recherchieren, was ich in zeitlicher Folge eigentlich so von mir gegeben habe; und vielleicht herausfinden, warum zum jeweili­gen Zeitpunkt; und wie sich Kontinuität und Diskontinuität offenbaren; und warum ich was zu durchdenken und zu sagen unterlassen habe. Ich will also beruflich-wissenschaftlich mit mir ins Reine kommen; oder es wenigstens versuchen.

Außerdem will ich Erinnerungen an meinen Lebensweg reaktivieren; nicht faktographisch (das bringe ich gedächtnismäßig gar nicht mehr zusammen), sondern als Reflexion meines Denkens, Verhaltens, Erlebens; meiner Anschauungen, zu denen ich gelangt bin.

Und noch eines: Ich mache mir nichts vor; wenn nicht der Systembruch 1989/90 über mich bzw. über uns gekommen wäre, ich hätte mich schwerlich zu einem solchen Vorhaben "In eigener Sache" entschlossen; glaube ich; zumal ohne Perspektivenwechsel die Schilderungen zu einer langweiligen Angelegenheit geraten wären von der Art: Ich habe mich für die Interessen der Arbeiterklasse eingesetzt, bla, bla.

Also was steckt dahinter als Motivation? Wenn ich in mich hinein höre: Ich will mich vergewissern, ob ich Anspruch habe auf Respektierung meiner Lebensleistung; und - ehrlich gesagt - mit der Frage habe ich die Antwort für mich schon parat: Ich habe Anspruch darauf. Jeder Mensch hat Anspruch darauf; wie widersprüchlich seine Biographie auch gewesen sein mag, mit welchen Wirkungen auch sie in das persönliche oder gar gesellschaftliche Umfeld hineingereicht hat.

Daß das überhaupt als Frage auftaucht, hängt damit zusammen, daß uns Ostlern nach der Wende in dem angeblich vereinten Deutschland eben dieser Respekt vor der Lebensleistung von der offiziellen Politik verweigert wird. Das ist die Crux, die das Verhältnis von Westlern und Ostlern belastet; weit mehr als Unterschiede in der sozialen Lage, für die man noch Verständnis aufbringen könnte. Keiner von uns geht davon aus, daß er alles richtig gemacht hat. Ob unsere westdeutschen Freunde das für sich behaupten können, müssen sie selbst beurteilen.. Aber von uns zu erwarten, daß wir unserer Biographie in Gänze abschwören und sie in die Müllkübel unserer Nachbarn entsorgen; das ist wohl zu viel verlangt. Genau dieses maßlos arrogante Ansinnen vergiftet die Atmosphäre und trifft viele von uns in ihrer existentiellen Befindlichkeit. Andererseits hebt sich vor diesem Hintergrund um so glückhafter ab der Kontakt zu solchen westdeutschen Kollegen und Freunden, die das genannte Ansinnen nicht an uns stellen. Und ich bin froh und dankbar, daß ich das in meinem persönlichen Umfeld in nicht wenigen Fällen erleben durfte.

Ist es verwunderlich, daß in solcher Situation ich das Bedürfnis habe, meine "Lebensleistung" vom Ende her kritisch zu durchforsten, um Ansatzpunkte für Beurteilung zu skizzieren; und vor allem: um in der von den Umständen gemachten Verunsicherung mit mir selbst zurecht zu kommen?

Ich habe 1991/92 schon einmal das Niederschreiben von Gedanken als Therapieform für mich genutzt. Es war eine Sammlung essayistischer Art entstanden unter dem Namen der Titelge­schichte "Das gelbe Gartentor". Sie ist in Schreibmaschinenfassung damals meinem engsten Freundeskreis zugänglich gewesen. Ich hatte sie etwas ironisch als "Betrachtungen und Grübeleien in Aufsatzform - Selbsthilfeprojekt 1992" gekennzeichnet. Jetzt greife ich wieder zu dieser Form, die sich für mich bewährt hat; unter anderen Bedingungen, mit gereiftem Erkenntnisstand. Ich kann offenbar nicht anders; Gotte helfe mir, Amen. Ich werde nichts überhasten, mir Zeit lassen dafür, die Therapiewirkung genießen und auskosten.

Das Aufgeschriebene ist nicht für eine Veröffentlichung zum allgemeinen Zugriff gedacht. Wer wird für so etwas schon wertvolle Euros ausgeben. So wie die Dinge liegen, wird es (wie ich nunmehr annehmen kann; und wenn meine Witwe mit Herrn Müller handelseinig wird) als persönlicher Nachlaß wohl registriert im Archiv mit Staub bedeckt werden.

Natürlich rede ich mir ein, daß im Kreis der engsten Freunde und Weggefährten und Bekannten Interesse vorliegt. Ihnen will ich die Schrift gern zugänglich machen. Allerdings gibt es doch einen mehr nach außen gerichteten Zweck dieser Schilderungen, also über den Kreis der Vertrauten hinausreichend. Er besteht darin, Zeugnis abzulegen für eine bewegte Zeit und den herrschenden Zeitgeist; und zwar aus biographisch-individueller Perspektive, die als Ergänzung zu anderen Zeugnissen vielleicht dazu dienen kann, das Puzzle für diese Zeit zusammenzusetzen. "Erzählt Euch gegenseitig Euer Leben", das war eine inzwischen verklungene Losung nach der Wende, als von "Zusammenwachsen" die Rede war. Ich will sie mit dem Nachstenden aufgreifen und ernst nehmen; vielleicht verspätet; aber unter Umständen kann das noch nützlich sein. Deshalb will ich diese Schrift nicht unter Verschluß halten.

Mai 2001

 

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