Meier, Artur

“Liebesglück und Wissenschaftslust. Ein (un)ordentliches Leben in dreieinhalb Deutschlands”

[=Autobiographien, Bd. 6], trafo verlag 2002, 396 S., zahlr. Abb., Personenregister, ISBN 3-89626-339-0, 22,80 €

   => Lieferanfrage

Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages

 

Der Autor erzählt in seinem Buch vom Dolce Vita eines Normalsterblichen unter sehr verschiedenen Regimen.

Geboren und aufgewachsen in Nazideutschland, auf dem Wedding mitten in Berlin (dem späteren Westsektor zugehörig), landet Artur Meier noch zu seiner Schulzeit – dank einer amerikanischen Fliegerbombe – in Pankow und Prenzlauer Berg (nachmalig Ostsektor). Im Zonendeutschland, jener politisch-historischen Halbheit, vor allem in seiner Viermächte-Heimatstadt verlebt er (bis 1961) eine faszinierende 'goldene Jugendzeit'. Danach verbringt er seine 'besten Jahre' in der DDR, dem anderen Deutschland, mit gelegentlichen Unterbrechungen durch Ausflüge in die große, weite Welt. Durch die Vereinigung 1990 gewissermaßen wieder im Westen angekommen, beginnt, schon im reifen Alter, seine jetzige Lebensperiode, in einem Deutschland, in dem er als Neubürger manches noch einmal von vorn anfangen muß.

In seinen Lebenslauf fallen einerseits persönliche und zeithistorische Stationen bemerkenswert stark zusammen, wiewohl andererseits die denkwürdigen Begebenheiten in seiner Alltagswelt naturwüchsig einen ganz anderen Verlauf nehmen als der allgemeine Gang der Geschichte. Deshalb widersprechen seine eigenen Erfahrungen vielen gängigen Klischees über das Vergangene und Gegenwärtige.

Gemäß Lichtenbergs Maxime, daß aus den günstigen wie den ungünstigen Momenten das Beste zu machen, die Kunst des Lebens und das Vorrecht der Vernunft sei, wird hier Authentisches über das alltägliche Glück und seinen Tücken erzählt. Die Episoden handeln von einem genußvollen Dasein mit reichen sexuellen Freuden ebenso wie von der Liebe zur Wissenschaft und der Lust an ihrer öffentlichen Darbietung. Dabei sind die Geschichten nicht entlang einer simplen Zeitleiste angeordnet, sondern aus drei parallelen Handlungssträngen bis in die Gegenwart gewoben.

Begleiten Sie den Autor auf einer Zeitreise durch sein 'Zweidritteljahrhundert'!

 

Inhaltsverzeichnis

(1932–1961)                   (1961–1989)                 (1990–2001)

1. Antrieb 9

2. Angriff 25

                 3. Anmeldung 41

4. Einmischung 57

5. Einmarsch (Ost) 73

       6. Einmarsch (West) 89

7. Drittelparität 105

8. Vierviertel 121

       9. Hälften 137

10. Aufenthalt 153

11. Aufstieg 169

      12. Aufschub 185

13. Höhenflug 201

14. Hochzeit 217

      15. Hochdruck 233

16. Füreinander 249

17. Miteinander 265

     18. Gegeneinander 281

19. Ausweg 297

20. Auslauf 313

     21. Ausstieg 329

22. Abgang 345

23. Abriegelung 361

     24. Abstand 377

 

 

 

Leseprobe 1. Kapitel

Diesmal hatten wir uns rechtzeitig in der Moskau – Bar Plätze reserviert, fünfzehn an der Zahl. Nach beharrlichem Bitten hatte sich der Restaurantleiter sogar bereit gefunden, an diesem Abend drei oder vier Tische zu einer Tafel zusammenrücken zu lassen. Darüber konnte man sehr froh sein; denn derartige Arrangements stießen in DDR-Gaststätten, selbst solchen der unteren Kategorien, gewöhnlich auf den unbeugsamen Ordnungssinn des allmächtigen Bedienungspersonals.

Auch in anderer Hinsicht hatten wir für unsere nächtliche Feier in der Bar des renommierten Restaurants Moskau in der Berliner Karl-Marx-Allee vorgesorgt. Ein Drei-Gänge-Menü zu je 10 Mark war als Abendmahlzeit im Voraus bestellt. Wir hatten uns auch zu einer Zeche von 300 Mark für die Nacht am gemeinsamen Tisch verpflichtet, und zusätzlich waren individuelle Ausflüge an den Bartresen zu erwarten. Wohlweislich holten wir die Eintrittskarten für diesen Abend schon vorher ab. Zwar wurde dafür der Höchstpreis verlangt; denn der Nachtclub bot neben dem Tanzvergnügen als Programm eine Mitternachtsrevue, aber für 5 Mark plus 10 Pfennige Kulturabgabe war ein jeder mit von der Partie.

An den Vorabenden von Feiertagen, wie es jener 30. April 1964 einer war, das wußten wir genau, erwies sich die Organisation, von der propagandistisch immer wieder behauptet wurde, sie entscheide alles, tatsächlich jeder spontanen Eingebung als weit überlegen. Schon an normalen Wochenenden durfte nichts dem Zufall überlassen bleiben, wollte man mit Freunden außerhalb seines Stammlokals einen Umtrunk veranstalten oder gar mit der Familie Essen gehen. Eigentlich fehlte es im Osten der Kneipenstadt Berlin nicht – erst recht nicht, seitdem dieser zur sozialistischen Hauptstadt avanciert war – an Destillen jeder Art und Größe. Doch selbst die höchste Preisstufe war erfahrungsgemäß immer noch niedrig genug, um kaum jemanden von der öffentlichen Befriedigung seiner Eß- und Trinkgelüste abhalten zu können. So gab es gegen den natürlichen Drang des Volkes nach Geselligkeit an solchen Orten nur eine einzige wirksame soziale Schranke: das war die schier unerträgliche Schwerfälligkeit der Bedienung. Feste Gehälter für die "Ober" beiderlei Geschlechts garantierten den materiellen Anreiz dafür, daß jeder Gast als einer zuviel im Saale empfunden wurde.

Wir hielten es deshalb für geboten, schon bei der ersten Bestellrunde, sogleich nach Einlaß in die Bar um 8 Uhr, Wein und Wodka flaschenweise kommen zu lassen. Das ersparte uns das übliche Warten auf das Nachschenken und den Kellnern, die in dieser Glamourbar ausnahmsweise als ziemlich höflich und beflissen galten, immerhin unnötige Wege.

Bestellung und Bezahlung bei Tisch waren ganz und gar meine Sache. Nach der einhelligen Meinung meiner versammelten Freunde und Kollegen handelte es sich an diesem denkwürdigen Abend um keine übliche Maifeier, sondern ganz klar um eine Meier-Feier. Sie besaßen auch ein Anrecht auf meine Einladung, nachdem sie schon den ganzen langen Nachmittag dicht gedrängt im Hörsaal 317 des zur Humboldt-Universität gehörigen Gebäudes in der Burgstraße der öffentlichen Verteidigung meiner Dissertation beigewohnt hatten.

Hauptberuflich als Direktor der mit der Volkshochschule vereinigten Abendoberschule für Werktätige in Prenzlauer Berg tätig, verdankte ich es meinen gutwilligen und stets ohnehin selbständig agierenden Kollegen, daß ich mich an meinen 52 Studientagen pro Jahr in Bibliotheken und Archiven auch außerhalb Berlins herumtreiben konnte. Dort stöberte ich historische Urkunden zur noch gänzlich unerforschten Arbeiterbildung in den ersten Jahren der Weimarer Republik, meinem Thema, auf. Dieses Quellenstudium kostete mich keineswegs nur Fleiß und Mühe, sondern bereitete mir auch manche Entdeckerfreude. Sie ließ sich noch dadurch steigern, daß sich hin und wieder die eine oder andere weibliche Muse fand, mich auf meinen Reisen in die Vergangenheit zu begleiten. Jedesmal gelang es ihnen vortrefflich, mich auf die sinnlich angenehmste Weise vom Aktenstaub wieder zu befreien und erquickend frisch in die Gegenwart zurückzuführen. Wenn ich am Ende meiner Promotionsschrift die geforderte eidesstattliche Erklärung abgab, daß die Arbeit ohne fremde Hilfe und nur unter Verwendung der angegebenen Mittel angefertigt worden sei, so entsprach dies dennoch der akademischen Wahrheit. Das mußte es auch, zumal die Gutachter auf "Summa cum laude" erkannten und insbesondere die Originalität der Quellensammlung lobten. Oh, fröhliche Wissenschaft!

Daß es auch auf der abendlichen Feier lustig zugehen würde, darum war mir nicht im geringsten bange. Aus der Universität hatte ich, wie es sich gehörte, meinen Doktorvater, Professor Helmut König, und den Zweitgutachter eingeladen. Außerdem zwei Doktoranden aus der Forschungsgruppe, der ich bis dato als Externer angehörte: meinen fidelen Freund Richard, und eine junge Genossin, der nach ihrer kürzlichen Scheidung so recht der Sinn nach Vergnügen stand.

Zu den Unileuten gesellten sich meine hauptamtlichen Abendschulkollegen. Alle sieben waren wir gute Freunde untereinander, und neben mir hatten drei von ihnen ihre Lebensgefährtinnen oder Ehefrauen mitgebracht.

Daß mein Kollegium vollständig erscheinen würde, damit war schon deshalb zu rechnen, weil ich für diesen Tag der ganzen Schule freigegeben hatte. Natürlich nicht wegen meiner Promotion, sondern mit dem Argument, daß der Unterricht ausfallen müßte, weil überall in den Betrieben Maifeiern stattfänden.

Meine Kollegen versicherten mir treuherzig, sie wären ausschließlich meinetwegen gekommen. Sie spielten dabei auffallend oft auf die Zukunft an, als wollten sie mich antreiben, den Erfolg zum Anlaß zu nehmen, um sogleich nach der nächsthöheren akademischen Würde zu streben. Zwar war ich mir der Aufrichtigkeit ihrer intellektuellen Anerkennung gewiß, doch kannte ich meine Pappenheimer viel zu gut, als daß ich nicht um ihren Hang zum Feiern und um ihre Vorliebe für die dabei zu erwartenden leiblichen Genüsse gewußt hätte. Nichts von dem war mir selbst fremd. Da stand also einiges an für die kommende Nacht.

In der Unterhaltung bei Tisch trumpften meine Kollegen zunächst aber mit ihrer geballten geistigen Kraft auf, undzwar gleich so, daß die Abgesandten aus der Universität kaum zum Zuge kamen. Schon in der Nachmittagsveranstaltung hatten sie das akademische Publikum durch ihre brillianten Kommentare in Erstaunen versetzt, gelegentlich sogar in Verlegenheit gebracht. Ihnen war es vielleicht am meisten zuzuschreiben, wenn später die Universitätszeitung diese "Verteidigung" zu einer der besten des ganzen Jahres kührte. Jetzt schienen sie für den weiteren Abend, lebhaft und feinsinnig unterstützt von ihrer weiblichen Fraktionshälfte, fest entschlossen, endgültig die kulturelle Hegemonie zu übernehmen. Es waren die spritzigen Pointen, der blitzgescheite Widerspruch, vor allem aber der Freimut der unbeschwerten Äußerung, wie sie dem Universitätsmilieu schon abhanden gekommen war und wie ich sie in späterer Zeit übrigens nirgends mehr wiederfand, die den Zauber des Gesprächs ausmachten. Die Stimmung in der Runde wurde auf diese Weise immer ausgelassener, ohne daß Standardwitze oder gar Zoten da einen Platz gehabt hätten. Wer jene zum Besten gegeben hätte, riskierte bei uns die Disqualifikation. Mehrdeutige Anspielungen, pikante Bemerkungen und offenherzig, aber stilvoll vorgetragene Lustbekundungen dagegen waren zugelassen und stießen bei den anwesenden Damen eher auf eine wohlwollende Erwiderung als etwa auf einen gezierten Protest. Das mag wohl daran gelegen haben, daß es ihnen an intellektuellem wie an körperlichem Charme nicht mangelte. Der Star unter ihnen war die vor heiteren Einfällen nur so sprühende Irmtraut, meine Lebensgefährtin dieser Jahre.

Das Gespräch bekam solchermaßen etwas Erotisches, noch bevor die Wirkung der aufgetragenen gebräuchlichen Rauschmittel eintreten und der eigentliche Tanz erst so richtig losgehen konnte. Als die Musik dann um 9 Uhr einsetzte, gab es kein Halten mehr.

Man tanzte damals überhaupt gern und häufig, sei es auf Privatfeten oder in öffentlichen Lokalitäten. Den Begriff "Live-Musik" kannte man noch nicht; dafür aber gab es sie allerorten. "Je länger, je öfter, je lieber" lautete das Motto der beliebten Betriebsfeiern. Es wurde von den Kolleginnen und Kollegen, die von der Arbeit an einen lockeren und gleichberechtigten Umgang miteinander gewöhnt waren, häufig genug nicht nur auf das Tanzvergnügen bezogen, sondern auch auf so manche Nachspielzeit. Auf ihre Art verwirklichten die Werktätigen die Parteilosung von der "sozialistischen Menschengemeinschaft": Die Freizügigkeit im Verkehr der Geschlechter untereinander grenzte teilweise an Hemmungslosigkeit.

Partei und Betriebe durften ganz sicher sein, daß die in regelmäßigen Abständen reichlich ausgeschütteten Prämienmittel als Zusatz zu Lohn und Gehalt ihren Anreiz zu höheren Leistungen nicht verfehlten. Nur daß der Arbeitsplatz gewöhnlich nicht als der geeignetste Ort galt, wo man seine frisch stimulierten Triebkräfte am besten unter Beweis stellte.

Offizielle Gelegenheiten zum Feiern gab es – jenseits von persönlichen Anlässen – ebenso reichlich wie regelmäßig. Für nahezu jeden Sektor und jede Branche fand sich im Kalender ein "Ehrentag". Bald nach Neujahr folgte von staatswegen der Tag des Werktätigen des Fernmeldewesens, eine Woche später schon der Tag der Mitarbeiter des Handels, und noch vor Frühjahrsbeginn feierten die Staatssicherheit und die Nationale Volksarmee ihre Gründungsjubiläen (Wer hat uns da eigentlich bewacht?) und bald darauf wir alle den Tag der Befreiung. Merkwürdigerweise nahmen die Parteioberen keinen Anstoß daran, daß der Tag der Bauarbeiter im Juni begangen wurde. Währendessen hatte immerhin doch ein heller Kopf unter ihnen bemerkt, daß die anfangs gängige Bezeichnung "Tag des Erfinders der DDR" ohne die Staatsbezeichnung weniger zweideutig erschien.

Heut´ aber war mein Tag! Ich hatte mir noch einige Reserven für das "Tanze mit mir in den Morgen, tanze mit mir in das Glück" aufgespart und gedachte sie, unter Ausnutzung der für mich günstigen aktuellen Umstände auch gezielt einzusetzen. Aber so schnell wurde daraus nichts. Zunächst genoß ich den Vorzug, den Reigen mit meiner reizvollen Frau-Freundin zu eröffnen. Jedoch schon beim zweiten Tanz spannte sie mir mein Kollege Gerd Sewekow geschickt aus. Er hatte mit feuriger Leidenschaft zuvor schon am Tisch das Gespräch ganz an sich zu reißen versucht und schien nun stürmisch ein gleiches mit dem begehrenswerten Körper seiner Tanzpartnerin anzustellen, die sich ihrerseits allerdings kaum weniger bezähmte.

Gerd jedoch hatte nicht mit dem kühnen Vorstoß meines gutaufgelegten Zweitgutachters gerechnet. Der hatte den rechten Augenblick für eine Entführung an die Bar erwischt und belegte erst einmal alle nächsten Tanzrunden. Dabei muß es wohl heiß hergegangen sein; denn, wie mir Irmtraut am nächsten Morgen dezent beibrachte, war sie nicht abgeneigt, der Einladung zu einem Besuch in seiner Privatsauna demnächst zu folgen, falls dessen junge Frau und ich auch noch dazuzustoßen bereit wären. Dem Connaisseur war gewiß die immense Oberweite meiner Herzdame nicht entgangen. Doch da hätte er sich schließlich auch an unsere andern Frauen halten können. Keine von ihnen brauchte den Vergleich mit den tief dekolltierten Damen an der Bar zu scheuen. Alle aber kamen sie unseren Idolen sehr nahe, den Lollobridgidas und Lorens, Magnanis und Egberts und wie die Kurvenstars der Leinwand so hießen.

Zu jener Zeit ebenfalls voll und ganz Busomane, hielt ich mich an Anneliese, Gerds Ehefrau, bei der ihre beiden äußeren Vorzüge besonders stark herausragten. Aber auch ihr Witz und ihre Bildung hatten nicht unter der täglichen Beschäftigung mit Kreuzworträtseln gelitten. Mit ihr zu tanzen war daher aus vielen Gründen ein echter Genuß. Wenn man Anneliese, wie um diese Zeit beim Tanzen üblich, fest im Arm hielt, zeigte sie sich äußerst anschmiegsam, beantwortete aber das stillschweigende Studium ihrer grandiosen Rundungen ebenso unauffällig mit so geschickten Schenkelstößen, daß man unwillkürlich auch etwas von den eigenen Maßen preiszugeben hatte. Mit sanftem Gegendruck war bei unseren Partnerinnen allemal zu rechnen.

Plötzlich aber wurde unser Schmusetanz genauso wie die Flirts der anderen, mittlerweile eingespielten Paare unterbrochen. Das Tanzorchester bestand gegen Mitternacht auf seine gewerkschaftlich genehmigte einstündige Pause. Dafür wurde als Einlage das Programm geboten.

Bei der Vorführung verdienten am meisten die nur sparsam bekleideten Artistinnen und Tänzerinnen Beachtung. Striptease war in der DDR sehr lange Zeit verboten (außer in den späteren Devisenetablissements) und auch in Ungarn und Polen erst gegen Ende der sechziger Jahre zaghaft erlaubt. Doch die kleinen Sternchen auf bestimmten Körperstellen der Künstlerinnen, die sich da vor dem Publikum geschmeidig in alle Richtungen hin- und herbogen, verhüllten kaum deren Tabuzonen. Sexuell erregend wirkte das Ganze auf mich nur bedingt. Letztlich konnte ich dem, was sich Äquilibristik nannte, selbst bei den gewagtesten Stellungen nicht viel abgewinnen und wäre angesichts dieser Verrenkungen im Notfall fast bereit gewesen, dem Roten Kreuz beizutreten. Gleichwohl erlaubte mir die durch die Mitternachtsrevue eingetretene Pause – sozusagen als Veranstalter – den Überblick über meine Gästemeute zurückzugewinnen.

Zu meinem Leidwesen waren zwei meiner Lieben desertiert: mein Doktorvater und mein Freund Richard. Der erstere war bestimmt schon auf dem Weg nach Hause; der letztere, so wie ich ihn kannte, dahin bestimmt nicht. Alle anderen harrten indes fröhlich der Dinge, die da noch kommen würden.

Ich sah Franz Beil, ebenfalls einer meiner Abendschulkollegen, selig Händchen halten mit seiner angebeteten Gerda. Beide kannte ich schon seit mehr als zehn Jahren und hatte ihre Hochzeit und die Geburt ihrer Tochter mitgefeiert. Das hatten wir weder dem ewigen Junggesellen zugetraut, noch seiner vorher nach allen Seiten offenen jetzigen Gattin, die trotz mangelnder Vorsicht zuvor kinderlos geblieben war. Gerd, der sich zum Unterschied von manch anderem von uns einmal bei ihr eine Abfuhr eingehandelt hatte, rächte sich hin und wieder, indem er hinterrücks die Anfangsbuchstaben von Gerda Beils Vor- und Zunamen gegeneinander austauschte. Aber damit kam er historisch zu spät. Wir anderen hüteten streng unser Geheimnis, schon um unseres Spätentwicklers im Kollegium willen.

Zu meiner Erleichterung registrierte ich auch, wie die lebenshungrige Genossin aus meiner Forschungsgruppe an der Bar hingebungsvoll ihren "Parteiauftrag" erfüllte. Heute war ich nämlich die Partei, und ich hatte sie nachdrücklich ersucht, unserem Schulparteisekretär Reinhard Weisbach den ganzen Abend nicht von der Seite zu weichen und ihn auf jede Weise zu fesseln. Das schien zu gelingen. Beide ließen sich reichlich Krimsekt servieren – das Glas kostete selbst am Tresen nur 4 Mark. Sie hielten einander auch schon ganz fest, aus Zuneigung oder wegen der Balance war von weitem nicht genau auszumachen. War mir auch egal; Hauptsache, Reinhard konnte ruhig gestellt werden und fand keinen Grund, die allgemeine Lustbarkeit durch seinen bekannten Jähzorn unter Alkoholeinfluß zu stören. Wir, seine Freunde, konnten ein Lied davon singen.

Es war noch nicht lange her, da hatte uns Reinhard anläßlich des Tages des Lehrers abends zu sich eingeladen. Wir hatten den Prämiensegen gerecht unter uns verteilt und Anlaß genug zu einem ausgiebigen Gelage. Also fuhren wir nach Waldesruh hinter Berlin-Köpenick in sein abseits vom Großstadtlärm gelegenes, selbst gebautes Wochenendhaus. "Datscha" wollte der sonst so Russophile trotzdem nicht zu seinem vom kommunistischen Vater geerbten Gartengrundstück sagen, der Ausdruck war außerdem damals auch noch nicht so verbreitet. Stattdessen sprach er vor allem wegen der mächtigen Terasse von seiner "Hazienda", auf der sich – nach des Baumeisters Angaben – gut ruhen, essen, trinken und auch alles Sonstige ohne Umstände anstellen ließ. Hier also hielten wir an unserem Feiertag eine Art Symposion ab: bei Wein, Weib und Gesang wurde wie immer viel geredet, spätabends nur einmal unterbrochen durch einen wahrhaft einsamen Wanderer, der an der Gartenpforte läutete. Er gab an, auch zu einer Lehrerfeier zu wollen, den genauen Ort im Dunkeln aber nicht finden zu können. Das wiederum veranlaßte unseren großzügigen Gastgeber, ihn hereinzubitten, sich im Kreis von Kollegen wohlzufühlen und einfach mitzumachen. Und so geschah es.

Alles verlief in schönster Harmonie und ganz friedlich bis zum Morgengrauen, als einige von uns nicht mehr mithalten konnten und deutliche Zeichen des Aufbruchs zu erkennen gaben. Dies aber ging dem Haziendabesitzer mächtig gegen den Strich. Er verwies auf die vorhandenen Schlafmöglichkeiten in seinem Gartenhaus. Müde durfte man werden, so ohne weiteres losgehen aber nicht. Während Gerd, Anneliese und ich es uns, ohne einschlafen zu können, in einem Hinterstübchen auf alle erdenkliche Art ganz angenehm machten, begann draußen plötzlich eine wüste Prügelei. Zuerst boxte sich Reinhard mit seinen stets eingeladenen Köpenicker Freunden, auch alles Lehrer. Dieses Ritual schien schon zu ihren Zeiten als Schüler auf dem Schulhof oder Schulweg frühzeitig eingeübt worden zu sein; denn sie alle kamen einigermaßen unlädiert davon. Dafür begann unser Schwergewicht jetzt, sich einige Angehörige seines Arbeitskollektivs zu schnappen. Um Haaresbreite wäre auch ich dran gewesen, als ich ein Glas Wasser zu holen mich vorgewagt hatte. Als Reinhard rasend auf mich zukam, bot ich ihm, einer plötzlichen Eingebung folgend, ganz liebenswürdig die Erfrischung an, worauf er jählings stoppte, zum Trinken innehielt und mich gleichzeitig zu seinem einzig verläßlichen Freund ernannte. Dann jagte er weiter nach den auserkorenen Opfern, die sich mehr oder weniger erfolgreich aus dem Staube zu machen suchten.

Gerd und Anneliese hatten, taktisch geschickt, die kurze Atempause während der Gartenschlacht zu einem gelungenen Fluchtversuch genutzt und winkten mir aus ihrem Auto zu, ich solle schnellstens einsteigen. Ich war flugs im Begriff, dies zu tun, da sah ich noch rechtzeitig, wenn auch ein wenig entfernt, auf einer an Reinhards Grundstück angrenzenden Wiese neben einer einzelnen Kuh ein einzelnes, verzweifeltes Häuflein Mensch stehen. Ich eilte auf ihn zu und erkannte unter dem blutverschmierten Gesicht den fremden Gast vom vorigen Abend, der ja nur nach dem Weg hatte fragen wollen (Das klang nach einem der damals gängigen Wandererwitze, entsprach aber der Wahrheit). Wir nahmen ihn zu Sewekows nach Hause mit und uns vor, nie wieder bei Reinhard draußen den Lehrertag zu begehen.

An meinem Ehrentag zahlte sich meine Vorsichtsmaßnahme dank des freundlichen Engagements meiner jungen Genossin aus. Wir tanzten alle frohgemut und störfrei in die späte Nacht oder den frühen Morgen, bis Reinhard dieses Mal der Erste war, der zum Aufbruch mahnte. Er kam uns sogar zuvor, als es darum ging, sich eines der seltenen Taxis zu organisieren. Wir wollten eigentlich noch von unserem Parteiverantwortlichen wissen, wo wir denn am Vormittag zur Maidemonstration anzutreten hätten, da war er schon mit seiner neuen Eroberung auf und davon. Ich hörte noch, wie das zarte Etwas aus meiner Forschungsgruppe dem Chauffeur ihre Adresse angab. Unseren bärenstarken Freund sahen wir erst am Montag, dem 4. Mai, wieder, pünktlich und fit zum Unterricht, aber noch in dem gleichen Anzug, den er zu meiner Feier getragen hatte.

Wir Übriggebliebenen fragten uns, in der Morgenkälte auf ein Taxi wartend, ob uns unsere Beine knappe fünf Stunden später schon wieder über den Marx-Engels-Platz zu tragen imstande sein könnten, den langen Anmarschweg hatte man noch mitzurechnen. Wir einigten uns trotzdem noch schnell auf einen Treffpunkt, etwa um 10 Uhr dann, bevor wir grüppchenweise nacheinander ein Taxi ergatterten.

Beils, Irmtraut und ich fuhren nach Prenzlauer Berg. Wir hatten den gleichen Weg: denn dort in der Wehlauer Straße bewohnte ich seit einem Jahr im Vordergebäude einer Schule eine Dienstwohnung, die mir Beils, im selben Haus beheimatet, über den Schulrat vermittelt hatten. Bei zwei schönen Zimmern machte es mir Alleinstehenden nichts aus, gelegentlich auch des Nachts Besuch zu beherbergen, wofür allerdings meistens auch eine Einraumwohnung ausgereicht hätte. Irmtraut verstand sich, obwohl sie ein paar Straßen weiter mit ihrer erwachsenen Tochter ihr eigenes Zuhause hatte, zu Recht nicht als Besuch. Wir trafen uns, wann wir Lust dazu hatten, und das war oft.

An Ausschlafen war an diesem Morgen nicht mehr zu denken. Beils hatten vorgeschlagen, bei ihnen die Zeit bis zum Abmarsch mit einem gemeinsamen Frühstück und einer flotten Skatrunde zu überbrücken. Irmtraut, ein Energiebündel sondersgleichen, hielt mit einem Augenzwinkern dagegen, daß sie die Feier noch mit einem eigenen Feuerwerk beschließen wolle. Mit dem weiten Spektrum ihrer Reize vermochte sie mich stets zu Höchstleistungen anzustacheln, selbst wenn ich müde zu werden drohte. Die Flammengarben, die sie hervorzauberte und herrlich zu löschen verstand, um sie gleich wieder aufschießen zu lassen, stellten keine pyrotechnische Sinnestäuschung dar. Und das Ganze währte auch viel länger als das funkelnde Blendwerk am Ende gewöhnlicher Freudenfeste.

So blieb uns kaum Zeit, uns noch schnell frisch zu machen für die anberaumte öffentliche Prozession. Beils klingelten schon energisch an der Tür, um uns abzuholen. Sie wurden hereingebeten und mußten sich noch einen Augenblick gedulden. Während Franz vornehm über das Chaos im Schlafzimmer hinwegsah und im Nebenzimmer in meiner Bibliothek zu kramen begann, ließ es sich die sinnesfreudige Gerda nicht nehmen, mich nach einem kalten Schauer (Warmwasser gab es noch nicht in der Wohnung) abzutrocknen und mich mit ihrer erfahrenen Nachhilfe rasch wieder zu neuem Leben zu erwecken. Dann reichte sie mir Sinnentrücktem rasch auch noch Hemd, Hose und Pullover. Ihre und meine Freundin hatte sich mittlerweile für den neuen Auftritt unter Kollegen in Schale geworfen. Mein bescheidener Aufzug mußte heute genügen und schien auch für das wunderbare Frühlingswetter durchaus geeignet.

Seltsam übrigens: Kaum etwas klappte einmal richtig nach Plan, doch zum 1. Mai herrschte stets "Kaiserwetter". Vielleicht hatte an diesem Tage ausnahmsweise jeweils Petrus den Vorsitz im "Rat der Götter", dem SED-Politbüro.

Dreimal im Jahr durften wir unseren Ersatzgöttern leibhaftig ins braungebrannte Antlitz schauen und ihnen huldigen. Am 1. Mai, dem Weltfeiertag der Werktätigen (der nicht mehr wie bei den Nazis "Tag der Arbeit" hieß), am 7. Oktober, dem Gründungstag der DDR (der später hochtrabend in "Nationalfeiertag" umgetauft wurde) und jeweils am zweiten Sonntag im Januar zu Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (dem Gedenktag, den die Parteioberen am Ende noch verfluchen lernen sollten). An diesen Tagen war es den unteren Ständen geboten, an ihrer Herrschaft vorbeizudefilieren – in gebührendem Abstand. Um die Tribünenränge waren ein weiträumiger Cordon abgesteckt und tagelang vorher jede Stelle genauestens untersucht worden, damit den ehrenhalber hoch über dem vorüberziehenden Volk stehenden, in so vielen feindlichen Kugelhageln erprobten Klassenkämpfern auch nicht das geringste Leid geschehe. (Es wimmelte ja in der Geschichte der DDR auch nur so von "Attentatstätern").

Wir vier fanden den Stellplatz unseres Bezirks, aber niemanden weiter aus unserem Kollegenkreis. Wie hatten sie doch noch tags zuvor getönt, mit einem ungenehmigten Transparent in Abwandlung der gängigen Losung aufmarschieren zu wollen, den beliebten Komparativ wählend, also dann: "Es lebe der 1. Meier". Trunken hatten sie noch skandiert: "Mai; Meier; am Meisten". Jetzt glänzten sie durch Abwesenheit. Möglicherweise laborierten einige noch an den Folgen der nächtlichen Sause oder befanden sich schon im Grünen. Da wir an der Volkshochschule schon lange vor den anderen Werktätigen den freien Sonnabend kannten, stand uns ein langes Wochenende bevor. Nach draußen, "zum Lichte empor" zog es auch uns hier getreu Versammelte, aber jetzt waren wir ersteinmal aufmarschbereit.

Übrigens hatten wir frühmorgens unseren Parteisekretär nur aus Spaß oder der Form halber wegen der Demonstrationspflicht konsultieren wollen. Seit langem hielten wir es an der Volkshochschule so, daß jeder selbst bestimmte, ob er teilnehmen wollte oder nicht. Niemand hatte zu befürchten, danach der Frage ausgesetzt zu sein, warum er denn nicht zur Demonstration erschienen wäre (oder wie wir die peinliche Kontrolle anderswo verulkten: "Quod erat demonstrandum"). Daß alle Welt ginge, um gezählet zu werden, mußte ich erst in den Demonstrationszügen Jahre später an der Akademie und an der Universität beachten. Da vermißte ich die Freiräume, welche wir uns an der Volkshochschule in jeder Hinsicht geschaffen hatten. Vielleicht war unser Kollektiv gerade wegen der Freiwilligkeit fast immer vollständig vertreten. Die einen kamen mehr aus Tradition, die anderen aus innerer Überzeugung. Gerd Sewekow beispielsweise glaubte, es seinem früh verstorbenen sozialdemokratischen Vater schuldig zu sein. Er spottete zwar über dessen einstige Aktivitäten in der alten SPD und bei den "Wandervögeln", wo sein Erzeuger wahrscheinlich nicht so stark beim "Wandern" als eher in der anderen Sektion gebunden gewesen wäre, verwies aber trotz seines Lästermauls sowohl auf seine genetische als auch auf seine politische Erbmasse. Gerd war Jahre zuvor wie ebenfalls ein anderer parteiloser Kollege sowie einst auch unser Stellvertretender Direktor aus der restaurativen Bundesrepublik in den verheißungsvollen Osten übergewechselt. Auf die tief verwurzelte sozialistische Grundeinstellung meiner Kollegen war jederzeit, wenn es darauf ankam, Verlaß.

Heute aber war von meinen Mitstreitern weit und breit nichts zu sehen. Nachdem Irmtraut auch noch Anschluß an ihre Schule gefunden hatte, beschlossen wir restlichen Drei, unsere eigene "Marschsäule" zu bilden. Da geschah es, daß plötzlich der Ideologiesekretär der Kreisparteiorganisation bei uns auftauchte, mich herzlich umarmte und ganz nach vorn zu den gerade ausgezeichneten "Aktivisten" und "Helden der Arbeit" in die ersten Reihen des Marschblocks holte. Zwischen all den festlich Gekleideten, die ihre neuen Orden trugen, fühlte ich mich nun in meinem alten Pullover doch nicht ganz so wohl und entschuldigte mich dafür ein wenig. Der junge Parteichef aber tröstete mich: Auf die Leistung käme es an und da sei wohl gestern etwas über die Unibühne gegangen, auf das der ganze Stadtbezirk stolz sein könne (Damals gab es erst ganz wenige promovierte Praktiker, unter den Schuldirektoren war ich der einzige). Das sagte einer der mächtigsten und zugleich einer der gebildetsten Funktionäre im Bezirk. Sieben Jahre zuvor hatte er am Abendgymnasium sein Abitur nachgeholt, Examen in fünf Fächern, Note: "Mit Auszeichnung" (bald nach mir ebenfalls noch extern promoviert). Uns verband nicht nur unser jugendliches Alter, sondern auch "gleicher Sinn, gleicher Mut", wie es im Text eines internationalistischen Songs meiner Generation hieß.

Ich mochte es nicht verhehlen, daß es mich ehrte, unter den Bestarbeitern aus den Betrieben an der Spitze des Demonstrationszuges mitzumarschieren. Es war auch nicht zu übersehen, daß an diesem 1. Mai nicht nur unter den Ausgezeichneten eine gute Stimmung herrschte.

Die Republik, so schien es mir, hatte hinreichend Grund, sich selbst zu feiern. Wirtschaftlich ging es seit dem Mauerbau ´61 mit ihr sichtlich bergauf. In die Betriebe war Sicherheit eingekehrt. Jeder hatte seinen festen Arbeits- oder Ausbildungsplatz und ein anständiges Einkommen, mit dem jetzt etwas anzufangen war. Die Versorgung mit "Waren des täglichen Bedarfs" hatte sich in den letzten drei Jahren kontinuierlich verbessert. Im "Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe", so hatten wir es im politisch interessierten Kollegenkreis in den noch vollständig veröffentlichten Protokollen nachgelesen, war es Ulbricht gemeinsam mit dem bei uns sehr populären Chruschtschow gegen den Widerstand einiger anderer sozialistischer Staaten gelungen, eine Sonderstellung der DDR durchzusetzen. Als westlicher Vorposten des ganzen Lagers wurde sie dazu auserkoren, der amerikanisch gestützten Schaufensterpolitik von drüben endlich etwas ebenfalls Modernes und Attraktives entgegenzusetzen. Das kam besonders uns in der Hauptstadt zugute.

In Berlin funktionierte seit 1963 ein Passierscheinabkommen, nachdem sich der Westen erstmals mit DDR-Vertretern an einem Tisch hatte setzen müssen. Das milderte die Auswirkungen des Kalten Krieges in unserer Stadt. Gerds und Irmtrauts Mütter aus Westberlin konnten jetzt wieder regelmäßig zu Besuch kommen, wenn auch der Weg für uns in die umgekehrte Richtung versperrt blieb. Dann reisten wir eben nach Osten, wo es noch viel Neuland zu entdecken gab.

Außerdem erlebten wir Bildungsleute auf einem Gebiet, das uns besonders nahelag, nach 1961 eine bemerkenswerte Öffnung. Das engstirnige Hoffen auf eine Masse von schreibenden Arbeitern nach dem Motto "Greif zur Feder, Kumpel" wurde kulturpolitisch zugunsten der professionell wirkenden Künstler zurückgeschraubt. Zu den Werken unserer großen Alten von gesamtdeutschem Format – Brecht, Becher, Seghers und Zweig – gesellten sich Bücher von Schriftstellern der jungen Generation, die uns über die Gegenwart etwas zu sagen hatten, auch Kritisches. Mit Christa Wolf, Hermann Kant, Christa Reimann, Erik Neutsch und vielen anderen Begabungen verfügte unsere Republik wie mit einem Schlage über eine eigene hochwertige Literatur und Kunst. Dieses Neue beflügelte uns.

Generell konnte man den Eindruck gewinnen, daß die DDR als Staat erst seit 1961 zum Leben erwachte. Es erschien mir nur folgerichtig, wenn ich gerade beim Umtausch der deutschen Personalausweise in diesen Wochen nebst dem frisch erworbenen Titel vor meinem Namen den Zusatz "Bürger der Deutschen Demokratischen Republik" eingetragen vorfände. Ich hörte ja deshalb nicht auf, mich als Deutscher meiner Nation zugehörig zu fühlen; den Alleinvertretungsanspruch der BRD-Gewaltigen uns allen gegenüber empfand ich hingegen als anachronistisch. Nicht einen meiner Freunde und Kollegen oder meiner erwachsenen Abendschüler hätte ich nennen können, der nicht inzwischen die Sache genauso sah.

Überall, so hatte es den Anschein, wurde entrümpelt und ein Neubeginn gewagt. Selbst auf der Maidemonstration waren neben den abgedroschenen Losungen neue Töne zu vernehmen: "Was der Gesellschaft nutzt, soll auch für den einzelnen vorteilhaft sein". Kollektive und persönliche Interessen sollten sich von jetzt an besser decken. Allmählich zog auch unsere Vorhut ihre Parolen von der ständigen Opferbereitschaft für das Allgemeine zurück und animierte stattdessen die Bürger, sich über ihre Leistungen auch privat etwas leisten zu können.

An unserer Schule waren wir mit der uns gepredigten Enhaltsamkeit schon lange durch. Im persönlichen Bereich fand sogar – zumindest unter uns Jüngeren – ein gewisser Wettstreit statt, wem es unter uns am besten gelänge, sich die "dickste Scheibe vom Brotlaib des Lebens abzuschneiden". So ähnlich hatte es wohl einst Bertholt Brecht ausgedrückt. Unser Parteisekretär übertraf seinen verehrten Meister, über dessen Frühwerk er eine Dissertation begonnen hatte, mit der Parole: "Drei Dinge braucht der Mann, um glücklich zu sein: ein eigenes Haus, ein eigenes Auto und ein schönes Weib". Damals, als Reinhard das verlauten ließ, hätte man aus seinem Munde eher politische Rechtfertigungsversuche als bis dahin noch als kleinbürgerlich geltende Ansprüche erwartet. Das war gleich nach dem Mauerbau, irgendwann zu Beginn des Herbstsemesters 1961, als wir mit neuen Kräften an die Arbeit gingen und froh darüber sein konnten, daß nach den Sommerferien weder einer unserer haupt- oder nebenamtlichen Kollegen noch mehr als ein halbes Dutzend unserer Teilnehmer aus der ganzen Abendschule fehlten. Unseren werktätigen Schülern brauchte ohnehin niemand erst beizubringen, daß materielle und ideelle Ansprüche an das Leben nicht im Widerspruch zueinander stehen.

An jenem schönen Maitag 1964 konnte ich mit einem gewissen Stolz auf das blicken, wozu ich es alles in den letzten Jahren gebracht hatte.

Die berauschende Feier der letzten Nacht zitterte noch in meinen Adern, als Irmtraut unmittelbar nach der Demonstration vorschlug, die "Rösser anzuspannen" und es uns in unserer Oase für den Rest des Wochenendes weiter gutgehen zu lassen. Von den überstandenen Festivitäten doch schon ein wenig erschöpft, haderte ich keinen Augenblick mit der Idee meiner vitalen Partnerin, sich jetzt von allem Trubel fernzuhalten und auf das Privateste zu entspannen. Auf ging´s zu meinem Grundstück, 35 km nördlich von Berlin in Stolzenhagen am Rande der Schorfheide gelegen. Mit dem Auto war die Strecke über die bekannten Ausflugsziele Wandlitzsee oder Mühlenbeck-Summt in ungefähr einer Dreiviertelstunde zu schaffen.

Allein die Fahrt dorthin geriet zum reinen Vergnügen. Die Grenze am Stadtrand, die Westdeutsche und Westberliner ohne Genehmigung daran hinderte, ins umliegende DDR-Staatsgebiet vorzudringen, konnten wir uneingeschränkt passieren. Freie Fahrt für unsere Bürger. Auch die Straßen waren bis auf einige Radfahrerpulks ziemlich frei; denn private PKW besaßen erst wenige. Die Chaussee führte uns durch dunkle Kiefernwälder und an wunderbar sauberen Seen entlang in eine nur von Sonntagsausflüglern bevölkerte Landschaft. Die Dörfer indes wirkten – entgegen früheren Befürchtungen – überhaupt nicht verlassen. Heute feierten die LPG-Mitglieder überall mit "Tanz unter´m Maibaum". Sie hatten sich mit den neuen Verhältnissen arrangiert und waren nicht schlecht dabei gefahren.

Mit meiner Karrete erweckte ich Aufsehen, in der Stadt ebenso wie hier draußen. Der sportliche Zweisitzer war ja auch totchic. Diese Coupé-Ausführung des P 70 war von den Konstrukteuren des sächsischen Automobilbaus dem westlichen Karmann Ghia nachempfunden, im Motor nicht so leistungsstark wie jener, aber mit einer Innenausstattung, die sich sehen lassen konnte: alles handgefertigt in echtem gelben Leder, die beiden Sessel vorn, die zwei Notsitze auf einer Bank hinten und das übrige Interieur. Außerdem war meine Luxuskutsche in dunkelrotem Lack mit einer schwarzen Kapuze drauf gekleidet. Von diesem außergewöhnlichen Gefährt fuhren nur drei oder vier in Berlin.

Zu diesem Liebhaberstück war ich nicht ohne die Hilfe meiner engsten Freunde gekommen. Gerd, schon selbst Besitzer des neuesten Wartburgtyps, hatte mir im Frühjahr ´62 das Angebot seines Garagennachbars vermittelt. Richard, von Beruf gelernter Autoschlosser, überprüfte den Wagen auf Herz und Nieren und befand ihn auch technisch als ausgezeichnet intakt. Dann schlug ich zu. Ich gab dem Modell aus der heimischen Produktion den Vorzug gegenüber einem sowjetischen Spitzenerzeugnis. Merkwürdigerweise erhielt ich nämlich just in dem Moment, als Gerd den begehrten Gegenstand für mich aufgetrieben hatte, eine Mitteilung vom Staatlichen Außenhandel, daß nach einer dreijährigen Voranmeldung auf der Rampe eines märkischen Fernbahnhofes ein "Moskwitsch" für mich zur Auslieferung bereitstünde. Qual der Wahl in der Planwirtschaft. Daß ich mich schließlich an Stelle des Neuwagens für den Gebrauchten entschied, lag nicht zuletzt am Preis. Bei einem Monatseinkommen von knapp 1000 Mark netto machte es schon einen Unterschied, ob ich statt der rund 12 000 Mark für den einen dreitausend weniger für den anderen hinlegen mußte, laut Kaufvertrag 8010 Mark, plus einen Tausender extra "auf die Hand". Der "Moskwitsch" war robuster und schneller, meiner dagegen viel schöner und eleganter.

In meiner Verliebtheit in das allererste Auto meines Lebens wurde ich freilich noch durch jemand anderes übertroffen: durch meinen sechsjährigen Sohn aus meiner gescheiterten Jungehe. Andreas, der Autonarr, hätte es in der Kenntnis aller Fahrzeugtypen und mancher ihrer Details mit dem Fachmann Richard aufnehmen können. Dagegen ward und blieb ich ein Laie. Doch hatte ich mich immerhin in den beiden Jahren seit dem Erwerb des Vehikels soweit qualifiziert, daß ich, anders als am Anfang, Richards oder meines Sohnes Anmache – gewöhnlich von den Notsitzen in meinem Rücken aus – nicht mehr bedurfte, um außerhalb der Ortschaften mit Tempo 60 oder sogar noch rasanter die 22 PS voll auszufahren. Heute brauchte auch die Frau auf dem Vordersitz nicht mehr zu befürchten, daß Lebensgefährtin etwa von Lebensgefahr herrühre. Souverän beförderte ich mein Kleinod nebst seiner ebenbürtigen Fracht an seinen Bestimmungsort.

Hier war ich mein freier Herr auf eigener Scholle. Das 1000 m2 – Grundstück mit einer Kate und einem Stall hatte ich im Sommer 1963 einer neunzigjährigen Bäuerin, die wegen ihrer Gebrechlichkeit ein Altersheim bevorzugte, abgekauft. Daß ich mir dieses zweite große Stück Privateigentum schon ein Jahr, nachdem ich mir meinen Renner zugelegt hatte, leisten konnte, verdankte ich den günstigen Konditionen. In einiger Entfernung von Berlin standen zu jener Zeit noch billige Wochenendgrundstücke zum Verkauf. Mit Grund und Boden durfte in der DDR nicht spekuliert werden. Mein Kaufvertrag ermöglichte mir eine geringe Anzahlung und danach kleine Monatsraten. Ordentlich wurde ich ins Grundbuch eingetragen, 32 Mark Verwaltungs- und Notariatsgebühren, keine Steuer. Das übrige mußte ich meinen handwerklich geschickten Arbeitereltern überlassen. Sie setzten das abgewohnte Bauernhäuschen innen und außen malermäßig wieder instand und versahen das Holzdach mit einer frischen Dachpappenlage und einem haltbaren Paratect-Anstrich.

Alles andere beließ ich beim alten. Aus dem tiefen Brunnen kam nach kräftigem Pumpen eiskaltes Wasser. Die Zimmer und die Küche waren notfalls beheizbar. Auf dem Außenklo empfahl es sich zwischen Oktober und April, einen Aufenthalt nicht über drei Minuten auszudehnen. Der Abort war dem stallartigen Nebengebäude angefügt, beides überdacht und unter einem alten Apfelbaum gelegen, gegen den der von Fontane bedichtete Birnbaum des Herrn von Ribbeck im Havelland sich kümmerlich ausgenommen hätte. Am Wildwuchs der Bäume, Sträucher und meterhohen Gräser ließ sich schon deshalb nichts ändern, weil niemand von uns die Qualifikation als Sensenmann besaß. Insofern hätte ich mich als erster "Grüner" in Berlin und Umgebung ins Guinessbuch eintragen lassen können.

Davon war mir damals noch nichts bekannt. Dagegen legte ich neuerdings Wert darauf, zur früher verpönten Kaste der Grundbesitzer zu zählen, und beantwortete fortan die entsprechende Frage in den DDR-Personalfragebögen nach Landbesitz positiv. Am liebsten hätte ich es ganz aristokratisch gehabt, etwa so: "Lord Artur, Stolzer auf Stolzenhagen". Doch diese neofeudalen Allüren lehnte mein sonst so hilfsbereiter Vater in seinem proletarischen Standesbewußtsein kategorisch ab und verwies auf unseren altdeutschen Adel repräsentierenden Familiennamen.

Ein Titel, das reichte schließlich, und auch an großen Anschaffungen aus der letzten Zeit fehlte es nicht. In der Tat hatte ich jetzt – mit Zweiunddreißig – beruflich und privat meine volle Erfüllung gefunden.

So richtig angefangen hatte alles – wie mit der DDR – im Schicksalsjahr 1961. Damals hatte sich Irmtraut meinetwegen scheiden lassen, keine leichte Entscheidung für eine Frau, die sechzehn Jahre älter war als ich. Im Frühjahr desselben Jahres erhielt ich meine Ernennung zum Direktor einer Schule, die dank ihres Kollegiums auf dem Weg war, sich einen Ruf weit über Berlin hinaus zu erwerben. Sie bescherte mir die denkbar kreativste Atmosphäre in einem Umfeld des allgemeinen Aufbruchs zu neuen Ufern.

Was wollte ich eigentlich mehr als die reiche Anerkennung in der Arbeit und die Leidenschaft einer reifen Liebe? Marx und Freud zusammengenommen, ja, das war´s. Die Befriedigung in beidem stellte für mich allzeit die stärkste Triebfeder meines Handelns dar. Von meinem persönlichen Glück geleitet, sah ich mich durchaus im Einklang mit einer Gesellschaft, in der ich mich von allen Seiten akzeptiert fühlte. Erfolg ist der beste Ansporn in unserer jeweiligen Lebenswelt.

Es sind vorzugsweise die kleineren und größeren Siege, die wir im Alltag zu feiern vermögen und die uns in einer ganz bestimmten Umwelt dazu anhalten, das zu wollen, was wir sollen, und es zu tun, ohne es zu merken.

Viel später – als Soziologe – hätte ich diesen Vorgang als erfolgreiche soziale Integration bezeichnet.

   => Lieferanfrage

Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages