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trafo verlag 2000, ISBN 3-89626-264-5, 14,80 EUR
Auszug
In dieser Reihe nehmen ost- und westdeutsche Akademikerinnen und Akademiker
nun seit 1995 das Wort zu Grundproblemen unserer Zeit.
Aus einem ostdeutschen Gemeinschaftsprojekt, dem sich westdeutsche
TeilnehmerInnen und AutorInnen hinzugesellten, entwickelte sich in kritischer
Auseinandersetzung miteinander die Schriftenreihe “Auf der Suche nach der
verlorenen Zukunft”, die neue, übergreifende Fragestellungen aufnehmen
und an die Öffentlichkeit bringen will. In die bisher erschienenen
Bände gingen die konkreten Erfahrungen und Schlußfolgerungen
der ostdeutschen AutorInnen aus dem Scheitern des realsozialistischen Versuchs
ebenso ein wie die auf einer ganz andersartigen Sozialisation beruhenden
Sichtweisen auf gesellschaftsrelevante Problemstellungen der westdeutschen
AutorInnen und MitarbeiterInnen. Wir erkannten diese Differenz an und nutzten
sie bewußt. Das erwies sich als eine Bereicherung der Zusammenarbeit
zwischen AutorInnen, Beirat, Herausgeberin und Verlag und hat uns dabei
geholfen, das im Sinne einer menschenfreundlicheren Gesellschaft Zukunftsträchtige
in Vergangenheit und Gegenwart wahrzunehmen und zur Diskussion zu stellen.
“Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft” stolpern wir heute bei
jedem Schritt über verlorengegangene Arbeit, bezahlte, versteht sich,
unbezahlte Arbeit bleibt uns erhalten, massenhaft und mit steigender Tendenz.
Das wachsende ungenutzte Arbeitskräftepotential gilt vielen als angeblich
unvermeidbarer Preis für die moderne Zivilisation. Vorschläge
zu seiner Nutzung gibt es andererseits in vielfältigen Varianten.
Frauen haben gute Gründe, gegen die bisherigen Reformvorschläge
ihren Protest geltend zu machen. Männer haben Anlaß, sich diesem
Protest anzuschließen, denn was heute für das weibliche Geschlecht
anvisiert wird, wird morgen auch die Perspektive der nicht mehr benötigten
männlichen Erwerbstätigen sein.
Den Frauen wird eine Zukunft vorausgesagt, die nur allzu deutlich auf
die Vergangenheit orientiert ist. Sie sollen sich mit unbezahlter Arbeit
für Haushalt, Familie, Ehrenamt und/oder gering entlohnter Zuarbeit
begnügen und die gut bezahlte Arbeit den Männern überlassen,
wobei verschwiegen wird, daß ein solches “Konzept” die steigende
Arbeitslosigkeit auch für Männer nicht verhindert.
Mit neuer Technik, neuen Technologien und Informationssystemen kann
mit immer weniger Arbeitskräften immer mehr produziert werden. Was
ein Segen für die Menschheit, Quelle selbstbestimmter Muße und
allgemeinen Wohlstands sein könnte, ist unter den heute weltweit bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnissen zur Geißel der Menschheit geworden.
Die “Freisetzung” von Arbeitskräften durch Rationalisierung nicht
nur in der Industrie, sondern in allen produzierenden, verwaltenden und
dienstleistenden Bereichen gehört inzwischen zu den Alltagserfahrungen
von Frauen und Männern. Kaum durch technische Rationalisierung betroffen,
da nur wenig oder gar nicht rationalisierbar, sind die meisten Arbeitsplätze
im Bildungs-, Gesundheits-, Fürsorge- und Kulturbereich; aber auch
sie werden abgebaut, weil sie angeblich nicht “finanzierbar” sind.
Die patriarchal dominierte ökonomische Theorie und Politik begnügt
sich mit der eigenen Hilflosigkeit gegenüber den sozialen Folgen dieses
Rückgangs an verfügbaren Arbeitsplätzen. Es gibt bekanntlich
keine sozialökonomische Konzeption, die den Zusammenhang zwischen
der “Freisetzung” von Arbeitskräften und konkreten Antworten auf die
Frage “freigesetzt wofür?” verbindet. Neue Denkansätze für
die Gewährleistung der Existenzbedingungen von Frauen und Männern
können nur von der Frage ausgehen: “freigesetzt” von welcher Arbeit
(Erwerbsarbeit) für welche Arbeit (Erwerbsarbeit)? Und – dieser Frage
untergeordnet – “freigesetzt” von einem Teil des Zeitaufwandes für
Erwerbsarbeit (Arbeitszeit) für freie Zeit zu Gunsten von freien Tätigkeiten
für eine menschenwürdige Lebensqualität.
Bereits vor Beginn des eben vollendeten Jahrhunderts formulierte der
Sozialdemokrat August Bebel: “Die Gesellschaft kann ohne Arbeit nicht existieren.
Sie hat also das Recht zu fordern, daß jeder, der seine Bedürfnisse
befriedigen will, auch nach Maßgabe seiner körperlichen und
geistigen Fähigkeiten an der Herstellung der Gegenstände zu Befriedigung
der Bedürfnisse tätig ist. ... Indem alle verpflichtet sind zu
arbeiten, haben alle das gleiche Interesse, drei Bedingungen bei der Arbeit
erfüllt zu sehen. Erstens, daß die Arbeit im Zeitmaß mäßig
sei und keinen überanstrengt, zweitens, daß sie möglichst
angenehm ist und Abwechslung bietet, drittens, daß sie möglichst
ergiebig ist, weil davon das Maß der Arbeitszeit und das Maß
der Genüsse abhängt.” (Bebel, 565)
Heute, wo solche Ziele durch die zu Bebels Zeit unvorstellbare Erhöhung
der menschlichen Arbeitsproduktivität eigentlich erstmals verwirklicht
werden könnten, wird vielmehr die massenhafte Arbeitslosigkeit dazu
missbraucht, Ansprüche auf menschenwürdige Erwerbsarbeit zu unterdrücken.
Die wissenschaftliche und sozialpolitische Diskussion über eine notwendige
“Humanisierung der Arbeit” aus früheren Jahren ist in der gegenwärtigen
Diskussion über eine “Neubewertung der Arbeit” nicht mehr zu finden.
Jüngste kritische Analysen der für immer weniger Menschen bestehenden
Möglichkeit, ihre Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit zu gewährleisten
(z. B. J. Rifkin, Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, 1998 oder U. Beck,
Schöne neue Arbeitswelt, 1999) verlagern das Bedürfnis der Männer
und Frauen nach Persönlichkeitsbestätigung durch sinnvolle und
schöpferische Tätigkeit in die unterschiedlich benannten Bereiche
der unbezahlten Arbeit. Wovon die Menschen leben sollen, wenn sie unfreiwillig
oder freiwillig auf Erwerbsarbeit verzichten müssen, bleibt theoretisch
und praktisch eine offene Frage.
Weil Frauen vorwiegend und zunehmend von den negativen Tendenzen des
Arbeitsmarktes betroffen sind, suchen sie auch mit unkonventionellen Ideen
nach Antworten auf die Fragen der Zukunft der Arbeit.
Die Autorinnen dieses Buchs, das eine alternative Sicht auf den Begriff
der Arbeit vorstellt, haben seit mehr als zwei Jahren in einer Arbeitsgruppe
des “Forums Ökonomie und Arbeit” praktische, sozialpolitische und
theoretische Probleme diskutiert, eine Diskussion, die von einer kritischen
Distanz zum gegenwärtig vorherrschenden, auf Erwerbsarbeit reduzierten
Arbeitsbegriff geprägt war. Die Erkenntnisse, die sie dabei gewannen,
führten sie natürlich nicht in allen Fragen zu identischen Schlußfolgerungen1.
Übereinstimmend erkannten sie jedoch, daß wir eine Ökonomie
benötigen, die die Bedürfnisbefriedigung und die gewünschte
Lebensqualität von Frauen und Männern zum Maßstab des Handelns
macht. In einer solchen Ökonomie beinhaltet “Arbeit” gesellschaftlich
nützliche Arbeit. Dabei kann bezahlte und unbezahlte Arbeit gleichermaßen
gesellschaftlich nützlich und sinnvoll sein. Sinnvoll ist eine selbstbestimmte
Arbeit, die nicht hierarchisch organisiert ist und der Herstellung eines
gesellschaftlich nützlichen Produkts oder einer Dienstleistung dient,
die weder die menschliche Umwelt noch die Mitwelt negativ beeinflussen
kann. Sie wird daher auch als ökologisch sinnvolle und nicht-patriarchale
zu organisieren sein.
In zwei Abschnitten werden (1) verschiedene Facetten des Arbeitsbegriffs,
(2) einige spezielle, mit der Arbeit in unserem 21. Jahrhundert verbundene
Probleme und einige Erfahrungen aus sozialwissenschaftlicher Alltagspraxis
behandelt.
Im ersten Abschnitt setzt sich Gisela Notz aus feministischer Sicht
mit verschiedenen erweiterten Arbeitsbegriffen auseinander. Sie hält
“eine Verkürzung der Vollzeiterwerbsarbeit, die Bereitstellung pädagogisch
und pflegerisch wertvoller Infrastruktur und gesellschaftliche, sowie normative
Regelungen, die geeignet sind, die Verweigerungshaltung der Männer
im Blick auf die (individuelle und kollektive) Übernahme von unbezahlter
Haus- und Sorgearbeit zu brechen” für eine unabdingbare Voraussetzung
der Arbeit in einer Gesellschaft, in der “die freie Entwicklung eines jeden,
die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist”, wie es im “Kommunistischen
Manifest” heißt.
Danga Vileisis nimmt die feministische Kritik an Marx und Engels zum
Anlaß, die Unterschiede zwischen beiden bezüglich ihres Arbeitsbegriffs
aufzuhellen und auf ihre daraus folgende Differenz die Geschlechterverhältnisse
betreffend hinzuweisen.
Lilo Steitz stellt frauenpolitisch relevante Argumente und Kriterien
für einen alternativen Arbeitsbegriff vor. Sie geht davon aus, daß
“Arbeit ... immer Tätigkeit zur Erzeugung der Mittel für die
Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ... für die Herstellung,
Erhaltung und Weiterentwicklung der materiellen, natürlichen, sozialen,
kulturellen und geistigen Lebensbedingungen der Menschen [ist], wobei die
Arbeitsbedingungen als Bestandteil der Lebensbedingungen erfaßt werden
müssen” (Steitz).
Brigitte Bleibaum behandelt das Verhältnis von Arbeit und Lebensqualität.
Letztere lasse “sich nicht auf den Freizeitbereich reduzieren, weil erstens
die Freizeit selbst nicht ‘frei’ von notwendiger Arbeit ist ... und zweitens
der gesamte Freizeitbereich ... ohne Arbeit als Bedingung für sein
Funktionieren nicht denkbar ist. ... Wenn sich individuelles Dasein auf
die Formel ‘arbeiten, um zu überleben’ reduziert, wenn kein Freiraum
zur Reproduktion der physischen und geistigen Lebenskräfte, geschweige
denn zur Realisierung von Interessen und Neigungen, von kulturellen, sozialen
und politischen Aktivitäten bleibt, dann fällt die Lebensqualität
auf ein archaisches Niveau zurück.” (Bleibaum)
Im zweiten Abschnitt diskutiert Anneliese Braun Grundsicherungsmodelle
und kommt zu der Überzeugung: “Eine soziale Grundsicherung ... kann
sich der schwierigen und langwierigen Aufgabe nicht verschließen,
Arbeit neu zu bewerten und auf dieser Grundlage umzuverteilen. ... Eine
Absicherung gegen Folgen von Erwerbslosigkeit ist derzeit eben auf längere
Sicht nur realistisch, wenn damit allmählich Umbrüche in der
Arbeit anvisiert und durchgesetzt werden.” (Braun) Diese sieht die Autorin
im ökologischen Landbau und anderen ökologischen Projekten, in
regionalen Vernetzungen, in Nutzung von Brachland u. a. m., die sie allerdings
nur für einen ersten Schritt auf dem Wege zur Um- und Neubewertung
von (Gesamt)Arbeit hält.
Carola Möller setzt sich in ihrem Beitrag über “Eigenarbeit”
kritisch mit drei Gruppen von Konzepten auseinander, die “nicht mehr profitabel
zu vermarktende Arbeitkraft in weniger profitablen Arbeitsfeldern bei geringeren
Löhnen, mit Subventionen und in Form unbezahlter (ehrenamtlicher)
Arbeit” nutzen wollen. Diesen stellt sie ein Konzept von Eigenarbeit gegenüber,
das sie als “Verausgabung von Kraft zum gemeinschaftlich selbstbestimmten
Zweck” als “kollektive Selbsttätigkeit” (F. Haug 1994) versteht.
Petra Drauschke setzt sich mit der Zeitproblematik allein erziehender
Frauen in Erwerbstätigkeit und in Arbeitslosigkeit auseinander und
kommt zu sehr differenzierten Aussagen, was die einschränkende oder
motivierende Rolle der unterschiedlichen gesellschaftlichen Zwänge
in Vergangenheit und Gegenwart für ihre Probandinnen betrifft.
Michaela Richters Anliegen sind die Befindlichkeiten erwerbsloser ostdeutscher
Frauen, die wesentlich von deren Existenzängsten geprägt werden.
“Eine Grundsicherung, die den Frauen ein eigenständiges Leben ermöglicht”
(Richter) und die vom Einkommen aus Erwerbstätigkeit unabhängig
sein müsse, hält sie für unverzichtbar.
Den Beiträgen nachgestellt ist eine unkommentierte Zusammenfassung
der derzeit aktuellen Debatte um den Arbeitsbegriff, die Brigitte Bleibaum
und Lilo Steitz zusammengestellt haben. Sie zeigt die divergierenden Auffassungen
über den Begriff der Arbeit und die daraus abgeleiteten praktisch-politischen
Schlußfolgerungen für die weltweit eskalierende Problematik
der Massenarbeitslosigkeit.
Der vorliegende Band will zur Diskussion um die “Zukunft der Arbeit”,
die eine Auseinandersetzung um die Zukunft der Menschheit ist, beitragen.
Autorinnen und Herausgeberin gehen davon aus, daß die Menschheit
eine Chance hat, Wege zu finden, die nicht in die Barbarei führen.
Vorwort der Herausgeberin 7
Hanna Behrend
Facetten des Arbeitsbegriffs
Auch “erweiterte Arbeitsbegriffe” verlangen eine feministische Kritik
13
Gisela Notz
Ist Frauenarbeit unproduktiv? Polemik zum Arbeitsbegriff von Marx und
Engels 24
Danga Vileisis
Argumente für einen alternativen Arbeitsbegriff 43
Lilo Steitz
Nachdenken über den Zusammenhang von Arbeit und Lebensqualität
60
Brigitte Bleibaum
Einige Probleme der Arbeit im 21. Jahrhundert
Soziale Grundsicherung. Entkopplung von Arbeit oder Arbeitspflicht?
77
Anneliese Braun
Eigenarbeit, ein mehrdeutiger Begriff 108
Carola Möller
“Was ich als ganz normal empfinde, ist für ihn schon Streß
...” Einige Überlegungen zur Zeitproblematik allein erziehender Frauen
121
Petra Drauschke
Wenn die Berufswelt zerbricht – Befindlichkeiten, Meinungen und Konflikte
von Frauen 137
Michaela Richter
Anhang
Ein Streifzug durch den Meinungsstreit über die Zukunft der Arbeit.
Dokumentation 148
Brigitte Bleibaum / Lilo Steitz
Über die Autorinnen 171