[=Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft, Bd. 9], trafo verlag 1999,
140 S., ISBN 3-89626-143-6, EUR 12,80
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In der Reihe “Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft” nehmen ost-
und westdeutsche AutorInnen nun seit 1995 das Wort zu Grundproblemen unserer
Zeit. Sie sehen ihre Überlegungen nicht als endgültige Wahrheiten
an, sondern stellen sie den LeserInnen zur Diskussion.
Der anzukündigende Band 9 der Reihe weicht indes von den
vorliegenden Bänden ab: Hatten diese die Zukunftsträchtigkeit
von Projekten, Auffassungen, Ideen, Visionen, Organisationen, Lebens- und
Arbeitsweisen zum Gegenstand wissenschaftlicher Prüfung gemacht, so
betrachtet in diesem Band eine westdeutsche, im Westen Berlins ansässige
Autorin ihren individuellen Weg zur Frauenbewegung und stellt sowohl deren
Problematik als auch ihre Zukunftsträchtigkeit für ihre eigene
Entwicklung und für unsere Gesellschaft auf den Prüfstand.
Am Werdegang von Gisela Gassen läßt sich sehr prägnant
die Bedeutung, die in den 70er und 80er Jahren den sozialen Bewegungen
und speziell der Frauenbewegung in den alten Bundesländern zukam,
ablesen. Die Autorin schildert sehr anschaulich die Rolle vor allem der
Frauenbewegung für ihren eigenen, in dieser Zeit keineswegs ungewöhnlichen
Selbstverwirklichungsprozeß. Die Begegnung mit und das Engagement
in der Frauenbewegung ließen sie von einer traditionell erzogenen
und politisch indifferenten jungen Frau aus dem Arbeitermilieu, die die
Unterordnung der Frau unter den Mann und andere Seiten der herrschenden
Geschlechterverhältnisse zunächst in keiner Weise in Frage stellte,
zu einer selbstbewußten, die herkömmliche Frauenrolle zurückweisenden
Feministin werden. Dieser durch die neue Frauenbewegung ausgelöste,
schließlich weltumspannende, Emanzipationsprozeß vieler Frauen
gehört zu den von der Schriftenreihe reklamierten, inzwischen fast
völlig “verlorengegangenen Zukunft”.
Gisela Gassens autobiographischer Bericht führt die LeserInnen
in eine Kindheit und Jugend als Adoptivtochter einer katholischen und konventionellen
rheinischen Arbeiterfamilie, in der sie nach der mittleren Reife eine kaufmännische
Ausbildung und ein Fernstudium als Fremdsprachenkorrespondentin absolvierte.
Sie ging dann nach Schweden, anschließend für drei Jahre in
den Iran. Heimgekehrt heiratete die 23jährige, für die “Frauenemanzipation”
zu jener Zeit ein Fremdwort war. Die Ehe scheiterte ebenso wie die ihr
folgende langjährige Beziehung zu einem deutsch-brasilianischen Journalisten.
Diesem verdankt die Autorin jedoch ihre Bekanntschaft mit der Politik und
mit der Frauenbewegung.
Sie beginnt für den WDR zu arbeiten, gestaltet frauenpolitische
Sendungen. So wird sie immer mehr in die sich damals auf ihrem Höhepunkt
befindende Frauenbewegung einbezogen. Das Kapitel “Meine feministischen
Lehrjahre” schildert ihre intensive Bekanntschaft und Auseinandersetzung
mit den Werken von frauenbewegten Schriftstellerinnen und ihre Recherchen
zur Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Sie lernt Frauenorganisationen
und -gruppen kennen, berichtet über wichtige Ereignisse wie die Berliner
Frauenkonferenz von 1977. Die siebziger Jahre sieht sie als “eine Zeit
gesetzgeberischer Reformen, die Reaktion waren auf tiefgreifende gesellschaftliche
Umwälzungen” (37). Dazu zählt sie die Adoptionsreform, das Nichtehelichenrecht
und andere neue Bestimmungen des Ehe- und Familienrechts. Kritisch setzt
sie sich aber auch mit dem Nichterreichten auseinander. Ihrer Auffassung
nach führten die Reformen dazu, daß “die Frauen insgesamt kritischer,
politischer und aufgeklärter wurden, ihre Rechte selbstverständlich
in Anspruch nahmen und sie auch deutlicher forderten” (38).
Nach einer Buchveröffentlichung wurde der Autorin Anfang
der achtziger Jahre die Arbeit als Geschäftsführerin des Landesfrauenrats
Berlin angetragen, die sie gerne übernahm und bis heute ausübt.
Sie schildert ihre Arbeit im Landesfrauenrat und als Herausgeberin der
Zeitschrift der Organisation, ihre Verbindung zu in- und ausländischen
Frauenorganisationen, die von ihr initiierten oder unterstützten Frauenprojekte.
In dieser Zeit erlebt sie nicht nur den Weg der frauenbewegten Frauen durch
die Institutionen, sondern auch den Beginn der Massenarbeitslosigkeit,
die wiederum vor allem Frauen trifft und den allmählichen Niedergang
der Frauenbewegung einleitete. Infolge der neoliberalen Politik des Abbaus
des Sozialstaats geraten auch die frauenfreundlichen Reformen ins Stocken.
Die Zersplitterung der Frauenbewegung, die Konkurrenz unter den verschiedenen
Strömungen und Gruppierungen verhindern jeden gemeinsamen Widerstand
gegen diesen “backlash”.
Der letzte Abschnitt des Lebensberichts handelt von der Wende
und ihre Auswirkungen auf die Frauenbewegung, vor allem im Westen; die
Autorin skizziert aber auch ihre Wahrnehmung der ostdeutschen Frauenbewegung,
allerdings hauptsächlich aus der Sicht der traditionellen Frauenverbände.
Ihre Bilanz, wie könnte es anders sein, ist ambivalent:
Den Schwächen und Unzulänglichkeiten der heutigen deutschen Frauenbewegung
stellt sie die Impulse gegenüber, die die Frauenbewegung einst der
alten Bundesrepublik gegeben hat: die Sichtbarmachen von Frauendiskriminierung,
und darauf aufbauend, die Mobilisierung weiblichen Selbstbewußtseins.
Deshalb sind “die Räume, in denen ungehindert Frauenfeindliches geäußert
und ‘Patriarchales’ dominieren kann”, kleiner geworden. “Die Diskussionen
innerhalb der Frauenbewegung und deren Einfluß auf die Öffentlichkeit
haben den Blick breiter Kreise freigemacht auf gesellschaftlich verankerte
Tabus. Sie haben dazu geführt, daß eine zunehmende Zahl von
Frauen ihre Lebenssituation realistisch wahrnimmt und es wagt, ihre Lebenswünsche
zu formulieren und durchzusetzen, auch wenn wir die Gleichberechtigung
noch lange nicht erreicht haben”.
Der Bericht der Gisela Gassen über ihren Weg zur einem emanzipierten
Selbstverständnis wird dazu beitragen, LeserInnen einen neuen Blick
auf die Frauenbewegung als einer auch für sie wichtigen Errungenschaft
zu vermitteln. Besonders diejenigen, die die große Zeit der Frauenbewegung
nicht selbst erlebt haben, sehen heute in ihr oft nur noch eine vergangene
und vergessene Geschichte. Indes zeigt der vorliegende Band, wie stark
sie, ungeachtet aller Rückschläge, auch heute unsere Lebensweise-
und Denkweise prägt und mitbestimmt.
Zum Gelingen des Buchs haben neben der Verfasserin west- und
ostdeutsche Bearbeiterinnen des Textes, die ostdeutschen Frauen Dr. Waltraut
Wölfel und Dr. Halina Anton und die westdeutschen Frauen Edeltraut
Schönfeldt und Dr. Marlies Grüning, beigetragen, denen herzlich
zu danken ist
... UND NICHTS VON ROSENROTER KINDHEIT
Ein Aufbruch
“Was willst du eigentliche?”
Amelias Töchter
Scheidung auf Portugiesisch
Frauen unter sich
Meine feministischen Lehrjahre
Frauenliteratur – Literatur von Frauen
Feministin sein – was heißt das?
Im Gespräch
Gestern wie heute: Frauenforderungen
Vorkämpferinnen
Bundesrepublik Deutschland
Die Siebziger Jahre
Die Achtziger Jahre
Hauptamtlich Frau
Wir Berlinerinnen
Dauerbrenner Arbeitswelt
Institutionalisierung
Frauenlandschaft Berlin-West
Frauen – gewendet
Der Herbst 1989 und seine Folgen
Ohne Frauen ist kein Staat zu machen