Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages

Dennis Püllmann

 

“SPÄTWERK. Heiner Müllers Gedichte 1989–1995”

 

[= ZeitStimmen, Bd. 5], trafo verlag 2003, 140 S., geb., ISBN 3-89626-003-0, 24,80 EUR

 

   => Lieferanfrage

 

Zum Inhalt (Auszug aus der Einleitung)

“Es bleibt also festzuhalten, dass innerhalb der germanistischen und komparativen Forschung die Lyrik Heiner Müllers bislang weitgehend vernachlässigt wurde. Dabei wäre die mittlerweile gewohnt umfangreiche Sekundär- und Tertiärliteratur zu Heiner Müller ein Thema für sich und eine eigene Arbeit wert. In zahlreichen Monographien und Aufsätzen, Essays, Vorträgen und Streitschriften, Pamphleten, Thesenpapieren und Traktaten zu seinen Stücken und Texten und zu ihm selbst als ‘Label’ spiegelt sich nicht nur die Vieldeutigkeit eines dichterischen Werkes, sondern auch der Wandel der institutionellen Forschung in historisch bewegten Zeiten. Seitdem sich Literaturwissenschaftler, Feuilletonisten und andere Sicherheitsdienste mit Heiner Müller befassen, fehlt es weder an vermeintlich subtil-geistvollen noch an brutalen Stigmatisierungen. Die entsprechenden Eponyme sind selbst dem nur mäßig Informierten hinlänglich bekannt, er kennt sie aus den Schlagzeilen der Zeitungen oder dem Titel eines Features, dessen Ankündigung er im Radio gehört hat: Heiner Müller, der asoziale Hedonist, der schwarze Manierist, der zynische Apokalyptiker. Oder einfach: Müller, der Schwätzer, der Dilettant, der Spitzel. Das angestrengte Spiel der Epitheta verrät selten etwas über den Dichter, dafür aber umso mehr über die Denkart und Biographie seiner Interpreten. Ihnen erscheint er einmal als prophète du passé, dann wieder als avanciertester Herold der Postmoderne, hier als Sphinx und dort als Orpheus, sein Werk als Ausdruck des bürgerlichen Formalismus oder eines lächerlichen sozialistischen Sentimentalismus. Selbst Peter Hacks, also jemand, dessen ästhetische Urteilskraft doch eigentlich mehr als ernst zu nehmen wäre, schrieb Anfang der neunziger Jahre lapidar: "Müller kann nichts, weiß nichts, ist nichts." Und wer Müller verehrt, ist auch nicht maßvoller. Irrsinn schreiben und denken dabei immer die anderen.

So erweist sich die innerhalb des akademischen und journalistischen Feldes ausgetragene Auseinandersetzung um Müller allzu oft als intellektueller Grabenkampf, in welchem sich die offiziell auf Methodenpluralismus eingeschworenen Kompanien zwar gegenüberstehen, sich dank ihrer gut ausgebauten institutionellen Verschanzungen und des Jargons, auf den sie je gedrillt sind, weder sehen noch anhören müssen. Die vermeintlichen Gegner dienen sich aber auch nicht selten als Komplizen, bilden ‘epistemologische Paare’ im Sinne Bachelards und wären ohne die je andere Seite verloren. Noch ärgerlicher als diese allbekannte Kriegsordnung des wissenschaftlichen Diskurses ist aber eine innerhalb ihrer immer wieder realisierte und durchaus fraktionsunabhängige Argumentationsstrategie der Interpreten, nämlich der sehnsüchtige Rückgriff auf die sonst mit Recht so verteufelte interpretatio authentica. Selbstaussagen Heiner Müllers, seine berüchtigten Anekdoten, Sentenzen und Paradoxien werden mit Freude ausführlichst wiedergegeben. Die das literarische Werk wohl deutlich übertreffende Masse an Gesprächen und Interviews, an ernsthaften Plaudereien und verspielten Kolloquien, festgehalten in Ton und nicht selten Bild, verleitet natürlich zum Rekurs auf diese Äußerungsformen. Welche These man auch immer vertreten mag, im Korpus des Gesprochenen wird man das nötige Material finden, sie sicher zu fundieren. Was immer man behauptet, hier hat man die Beweise. Wen immer man widerlegen möchte, die passenden Zitate sind schnell gefunden. Leider profitiert von diesem Arsenal des seiner Vergänglichkeit entgangenen gesprochenen Wortes auch der Gegner. Jede eigene These erweist sich plötzlich als unhaltbar, jede Behauptung als verfehlt, jedem Zitat kann auftrumpfend ein anderes entgegengehalten werden. Aus diesem Tatbestand sind Konsequenzen zu ziehen. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit Heiner Müllers Gedichten müssen eben die Gedichte stehen. Das heißt nicht, dass wir alles, was Müller über sie und anderes gesagt hat, ignorieren müssen, es als nichtexistent begreifen, auch wenn es uns noch so einsichtig erscheint. Die notwendige Skepsis der hermeneutischen Allmacht des Dichters gegenüber muss bei einem selbst nicht unbedingt zur Zwangsneurose werden. Und aus der Ablehnung des Interpretationsmonopols des Autors folgt nicht notwendig seine Liquidation. Heiner Müller hat ebenso wie jeder andere das Recht, zu den Texten Heiner Müllers Stellung zu beziehen – nicht mehr und nicht weniger. Für die zu Rate gezogene Rede Heiner Müllers gilt dann aber das Gleiche wie für das Handeln seines den Tod austeilenden Horatiers: Zu nennen ist alles, was relevant erscheint, und nichts darf verschwiegen werden. Sagt Müller im Gespräch mit Alexander Kluge emphatisch ‘A’ und antwortet er auf eine Frage Erich Frieds in selber Hinsicht mit einem nüchternen ‘non A’, so ist beides zu erwähnen. Denn "Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann / Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte / Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar / Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich". Und bekannt gemacht werden muss, so die ihn abschließende Selbstauslegung des Horatier-Textes, die Wahrheit, auch wenn sie unrein ist und in sich zwei einander widerstrebende Seiten einschließt. Vor Dialektik sollte sich ohnehin nicht fürchten, wer sich mit Müller auf die Geschichte einlässt.

 

 

 

 

Inhaltsverezichnis

I. Einleitendes

II. Die Verweigerung eines Spätwerks im Zuge seiner Verfertigung

II.1. ‘Spätwerk’ als literaturgeschichtliche Kategorie

II.2. Der Zerfall des realsozialistischen Gesellschaftskörpers als erste Bedingung des spätzeitlichen Schreibens Heiner Müllers

II3. Der Zerfall des biologischen Autor-Körpers als zweite Bedingung des spätzeitlichen Schreibens Heiner Müllers

III. Das gelungene Wort im Zeitalter der verzerrten Kommunikation

III.1. Annäherung an den Begriff der verzerrten Kommunikation

III.2. Bilder verzerrter Kommunikation in späten Gedichten Heiner Müllers

III.3. Der Funken des gelungenen Wortes

IV. Im Dialog mit der Antike

IV.1. Der Alb der Moderne. Walter Benjamins Lektüre der Antike

IV.2. Heiner Müller und der Mythos

IV.3. Heiner Müller und die römische Antike

V. Heiner Müllers ‘Mommsens Block’

V.1. Mommsens block oder Das Schweigen der Schrift

V.2. Wie ‘Mommsens Block’ gemacht ist

V.3. Müller, Marx & Mommsen

VI. Zur Reflexion des Poetischen in späten Gedichten Heiner Müllers

VI.1. Selbstreflexivität und Selbstkritik der modernen Lyrik

VI.2. Gedächtnisnarben. Poesie unterm Mercedesstern

VI.3. Ins Leere schreiben

VII. Zusammenfassendes

VIII.Anmerkungen

IX. Bibliographische Angaben

Anlage: Mommsens Block (Text)

Über den Autor

 


© trafo verlag dr. wolfgang weist, Berlin